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21.02.09 / Musik in den Zeilen / Roman nimmt Klavierstücke als Trauerverarbeitung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 08-09 vom 21. Februar 2009

Musik in den Zeilen
Roman nimmt Klavierstücke als Trauerverarbeitung

„Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.“ Diese Aussage des französischen Schriftstellers Victor Hugo kann als Leitmotiv über dem neuen Roman Anna Enquists „Kontrapunkt“ stehen. Mit Musik versucht die Protagonistin – das Alter Ego der niederländischen Autorin – den Tod eines geliebten Menschen aufzuarbeiten. Die Mutter verliert ihre erst 27jährige Tochter bei einem Verkehrsunfall und beginnt zur Bewältigung ihres Schmerzes Bachs Goldberg-Variationen einzustudieren.

Die Klangwelt verleiht ihrer Sprachlosigkeit Ausdruck und gewährt ihr Zugang zur allmählich verblassenden Vergangenheit: „Durch das Klavierspiel baute man eine Laufbrücke, einen wackligen Steg, der es zumindest erlaubte, inmitten der Verwüstung umherzugehen und das lädierte Gebiet zu besichtigen ... Durch die Hintertür hatte Bach ihr Zugang zu ihrem Gedächtnis verschafft: Jede Variation hatte Erinnerungen an das Kind wachgerufen, die sie in dem Heft notiert hatte.“ Bachs Arie und deren 30 Variationen bilden nicht zufällig das Gerüst des Buches.

Der Komponist schrieb sie nach dem frühen Tod seines Sohnes Bernhard und widmete sie seinem Lieblingssohn Wilhelm Friedemann. Schon seit dem 19. Jahrhundert finden sich Bezüge zu dem berühmten Klavierwerk in der Literatur, etwa in E.T.A. Hoffmanns „Fantasiestücken in Callots Manier“ von 1814 oder in Thomas Bernhards 1983 erschienenem Roman „Der Untergeher“. In „Kontrapunkt“ schöpft Enquist aus ihrem Erfahrungsschatz als ausgebildete Pianistin und Psychologin und verknüpft virtuos musiktheoretische Reflexionen mit heiteren und traurigen Momenten aus dem Familienleben: „Alle vierstimmigen Goldberg-Variationen erinnerten sie an Ferien, an harmonische Ausflüge in der Geborgenheit des Quartetts. Hier, in dieser Variation hatte die Sopranpartie etwas Unbesiegbares an sich, so etwas wie die noch ganz unkomplizierte Entdeckungsfreude eines Kindes, das sich fast euphorisch in der Welt orientierte ... Unten in der Tiefe brummten die Stimmen der Eltern zufrieden mit.“

Die Strukturfolie der Bachschen Klavierstücke hat jedoch auch ihre Grenzen. Durch die rigide Abfolge der einzelnen Variationen verliert der Text ab dem Mittelteil an Prägnanz. Die Erinnerungen an die Tochter beinhalten bereits vorweggenommene Details aus anderen Variationen und fügen diesen wenig Neues hinzu, so daß die Lektüre bald etwas eintönig und repetitiv wirkt. Dennoch ist Enquists Roman aufgrund seiner einfühlsamen Schilderung der Mutter-Tochter-Beziehung und der originellen Verbindung mit Bachs barocker Musik empfehlenswert. Zum Schmökern mit allen Sinnen bietet sich das parallele Abspielen der Variationen Glenn Goulds an. Die Aufnahmen des kanadischen Pianisten lassen den Leser noch tiefer in die Erzählung eintauchen und den Augen- zum Ohrenschmaus werden. Zum Lesevergnügen trägt schließlich die stilsichere Übersetzung von Hanni Ehlers bei, die dem deutschsprachigen Publikum schon seit 20 Jahren niederländische Literatur zugänglich macht. Sophia E. GerberAnna Enquist: „Kontrapunkt“, Luchterhand Literaturverlag 2008, gebunden, 224 Seiten, 17,95 Euro


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