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14.03.09 / Vor Sonnenaufgang / Gerhart Hauptmann und die Gegenwart

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-09 vom 14. März 2009

Vor Sonnenaufgang
Gerhart Hauptmann und die Gegenwart

Gerhart Hauptmann ist im Juni 1946 – aus dem schlesischen Agnetendorf überführt – in Kloster auf der Insel Hiddensee beerdigt worden und zwar: vor Sonnenaufgang. Das war sein Wunsch, den die damalige sowjetische Besatzungsmacht der Ostzone Deutschlands respektierte und in die Tat umsetzen ließ, galt der Nobelpreisträger Hauptmann doch selbst im Rußland jener Tage als einer der beliebtesten deutschen Dichter. Das Schauspiel „Vor Sonnenaufgang“ war der dramatische Auftakt des Sozialkritikers Gerhart Hauptmann und verursachte bei seiner Berliner Uraufführung am 20. Oktober 1889 einen Theaterskandal. Sein Angriff auf die Neureichen und Leuteschinder wurde von dem Premierenpublikum damals als unstatthafte Aggression empfunden. Aber verstanden hatte es jeder, besser als das in jenem Jahr noch nicht einmal 20 Jahre alte „Kapital“ von Karl Marx.

Zur Erinnerung: Der Journalist Alfred Loth kommt in seine schlesische Heimat, um die Lage der Kohlearbeiter zu untersuchen. Zuvor hat er aus politischen Gründen zwei Jahre im Gefängnis gesessen. Loth trifft einen ehemaligen Mitschüler, der inzwischen als Kohlegrubenbesitzer zu neuem Reichtum und altem Familienelend gekommen ist. Die Frau ist wie ihr Vater dem Alkohol verfallen. Die Schwester Helene lehnt es ab, auf die „Partnerschaftswünsche“ des Schwagers einzugehen, und verliebt sich in Alfred Loth. Ringsum wuchern Suff und Verkommenheit, die schließlich sogar den Journalisten die Flucht ergreifen lassen. Alles endet in Verzweiflung. Helene will sich erschießen. Ihr Vater taumelt betrunken umher und brüstet sich mit seinen schönen Töchtern. –  Ein pralles Stück Elend in der guten Stube. In Schauspielführern übergangen, wird das Stück nur in Ausnahmefällen zur Kenntnis genommen, und sollte es ein Theater riskieren, „Vor Sonnenaufgang“ auf die Bühne zu bringen, wie unlängst das Hamburger Thalia Theater, wird kaum jemand daran Anstoß nehmen, wenn ein moderner Regisseur wie David Bösch mit krampfhaften Aktualisierungsversuchen aus einer unter die Haut gehenden Sozialtragödie eine suffisante Kapitalimus-Satire macht.

Das „gute-Stube-Bühnenbild“, das Hauptmann der Erstausgabe seines Dramas als akribische Grundriß-Skizze voranstellt, wird in der Hamburger Inszenierung durch eine bühnenbeherrschende Kohlenhalde abgelöst. Links flankiert von Getränken mit Zubehör, rechts von Mobiliar-Müll. Dazwischen die von 19 auf sechs Personen reduzierten Akteure mit neuen Aussagen von mehrfach anderer Bedeutung. Aber am Ende geht die Sonne auf – als große goldene Scheibe …

Wie so oft darf sich das Publikum anstelle des farbenprächtigen Originals an einer Art symbolisierendem Bühnen-Plakat erfreuen, mit dem der Regisseur den Charakter des Stückes als „böses Märchen“ näherkommen möchte. Bei Gerhart Hauptmann geht dabei viel Nährwert verloren, den der Dichter aus Agnetendorf ja nicht allein für das Theater gehabt hat. Seine Bilder einer zeitgemäßeren Einstimmung zuliebe zu ändern, wie es David Bösch versucht, ist also doppelt problematisch; erfahrungsgemäß wirken derartige „historischen Pakete“ oft heute noch unmittelbarer als wenn man sie neu zusammenschnürt. Das gilt selbst für Theaterprodukte, die älter sind als 120 Jahre. Als Zeitgenosse von Karl Marx erweist sich Hauptmann dabei als in besonderer Weise interpretationsgefährdet. Selbst seine „Weber“ reden stellenweise viel radikaler als heutige Schicksalsverwandte. Neben dem Vertiko klingen die Kapitalismusgeschädigten einfach echter als vor der Kohlenhalde, und manchmal erscheint es heute noch wichtiger als gestern, daß sie auch verstanden werden.       

Rosemarie Fiedler-Winter

Foto: Trostlos: Hauptmann-Drama und seine moderne Interpretation


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