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14.03.09 / Auf der Suche nach sich selbst / Irischer Autor überzeugt mit deutscher Nackriegsgeschichte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-09 vom 14. März 2009

Auf der Suche nach sich selbst
Irischer Autor überzeugt mit deutscher Nackriegsgeschichte

„Gregor Liedmann schlief in seinem Bett und wachte gar nicht erst auf. Er war knapp drei Jahre alt und glitt nahtlos aus dem Traum in den Tod, umgeben von seinen Stiften, seinem Schreibblock und dem Holzschiff, das ihm sein Großvater Emil gebaut hatte.“ Nach „Gescheckte Menschen“ und „Der Matrose im Schrank“ nimmt sich der 1953 in Dublin geborene Hugo Hamilton erneut der Frage an, inwieweit eine nicht eindeutige Identität den Lebensweg eines Menschen bestimmen kann. Sein neuer Roman „Legenden“ spielt allerdings nicht auf seiner grünen Heimatinsel, sondern in der Heimat seiner Mutter: Deutschland.

Gregor Liedmann ist um die 60 Jahre alt und noch heute glaubt er, daß er nicht der Sohn seiner Eltern ist. Dieser starb im Zweiten Weltkrieg bei einem Bombenangriff auf Berlin. Er selbst ist mit einem Flüchtlingstreck aus dem Osten gekommen, aber auch dort ist er nur mitgenommen worden, da er angeblich ein jüdisches Waisenkind ist, das dem Vater seiner Mutter übergeben wurde. Diese Geschichte hat Gregor als Jugendlicher von dem besten Freund seines in den letzten Kriegstagen verschollenen Großvaters erfahren und kurz danach seine vermeitlichen Eltern auf immer verlassen.

Hugo Hamilton gelingt es fabelhaft, Gregors verzweifelte, aber fruchtlose Suche nach seiner Identität darzustellen, und schildert, wie dieser seine gesamte Gegenwart zerstört, weil er nur auf die Vergangenheit fixiert ist. Nur kurz findet der Weltenbummler bei der jungen Mara und ihrem gemeinsamen Sohn Daniel Ablenkung, doch als diese erfährt, daß Gregor gar kein Waise ist und es Eltern gibt, die behaupten, er habe die ganze Geschichte nur erfunden, nimmt dieser wieder reißaus.

Aber nicht nur Gregor flüchtet. Die beiden Menschen, die ihn aufgezogen haben, haben ihm nichts anderes vorgelebt. Vom Krieg verstört und ohne Hilfe suchen sie sich ihre eigenen kleinen Fluchten. Gregors Mutter schreibt Listen, mit denen sie die Unordnung ihrer Gefühle und ihres Lebens zu sortieren sucht, und sein traumatisiert aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrter Vater versucht, seinen Sohn zum Überlebenskämpfer zu machen, indem er ihn im Wald zum Pfadfinder der Extraklasse trimmt. All diese eindringlichen Episoden aus Gregors Kindheit flicht der Autor in seine in der Gegenwart spielende Geschichte ein. Hier hat Mara ihren Noch-Mann, seinen besten Freund Martin und ihren volljährigen Sohn Daniel mit Freundin ins Haus ihrer Schwester zur Apfelernte eingeladen. Es ist ein warmer Sommertag, und alle helfen bei der Ernte. Die Stimmung ist vordergründig harmonisch, doch im Untergrund brodeln nicht nur Daniels verletzte Gefühle, der den Eindruck hat, er sei wegen eines Hirngespinstes von seinem Vater verlassen worden.

Egal ob Weltkrieg, Nachkriegszeit, die wilden 60er oder Gegenwart, immer trifft Hugo Hamilton den passenden Ton, um die Gefühle der von ihrer Zeit geprägten Menschen darzustellen. Eine geniale Mischung aus Poesie und Sachlichkeit läßt seine Worte nachklingen und verdeutlicht jene Dinge, die seine Charaktere gefangenhalten.

Besonders beeindruckend ist hier auch eine Passage über einen Flüchtlingszug, der in einer Eindringlichkeit und mit einem Einfühlungsvermögen beschrieben wird, das man selten bei einem deutschen, geschweige denn bei einem irischen Autor findet. „Die Gestalt der Dinge, die man vor Augen hatte, vertiefte nur das Verlustgefühl. Sie waren Flüchtlinge ohne Hab und Gut, ohne festes Zuhause, ohne das soziale Netz von Verwandten, Freunden oder Nachbarn, ohne Landmarken der Kindheit wie Kirchturm, Schule oder Geschäfte. Sie kannten sich nicht mehr aus, und das Gefühl für die heimische Geographie ging ihnen langsam verloren. Nichts war ihnen mehr vertraut, und manches hatten sie schon vergessen, weil jene Umgebung fehlte, die die Erinnerung geweckt hatten. An bestimmte Dinge konnte man sich nur gemeinsam mit Einheimischen und an einem Ort erinnern, an dem man zu Hause war. Sie waren auf der Flucht in eine große Leere, und sie gehörten nirgendwo mehr hin. Sie hatten die Grundlagen ihres Lebens verloren. Alles, was ihre Identität ausgemacht hatte, war zu einer Geschichte zusammengeschrumpft, die sie in ihren Köpfen trugen.“            Rebecca Bellano

Hugo Hamilton: „Legenden“, Luchterhand, München 2008, geb., 303 Seiten, 19,95 Euro


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