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11.04.09 / Abgründe tiefer als das Meer / Blinde Passagierin im Abendkleid sorgte 1904 für Aufregung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 15-09 vom 11. März 2009

Abgründe tiefer als das Meer
Blinde Passagierin im Abendkleid sorgte 1904 für Aufregung

Eine kurze Meldung in der „Herald Tribune“ im Jahr 2004, genau 100 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen in der „New York Times“, veranlaßte die Germanistin Dörthe Binkert zu ihrem ersten Roman. „Frau überquert den Ozean nur mit einem Abendkleid ohne weitere Bekleidung“ war dort zu lesen. Es ging um eine blinde Passagierin, die sich in Antwerpen auf ein Schiff der Red Star Line geschmuggelt hatte, um sich einen Tag nach Verlassen des Hafens selbst beim Kapitän zu stellen. Die Meldung faszinierte die Mitarbeiterin eines großen Publikumsverlages so sehr, daß sie sich nun erstmals selbst daran machte, einen Roman zu verfassen. Doch die Informationen waren rar, und so verband die Autorin die Fakten mit viel Phantasie zu einer spannenden Geschichte. Denn nicht nur die „New York Times“ fand es aufsehenerregend, daß eine Frau, offenbar aus der Oberschicht, nur mit einem weißen Seidenkleid und Diamantohrringen ausgestattet, als blinde Passagierin versuchte, nach Amerika zu kommen. Auch die von Dörthe Binkert erfundenen anderen Gäste auf dem Schiff sind fasziniert von der Frau in Weiß.

In „Weit übers Meer“ löst die Autorin jedoch nicht nur das Rätsel um jene geheimnisvolle Frau, sondern bindet auch die Schicksalsschläge der anderen Passagiere in ihren Roman mit ein. Da ist der Bildhauer, der von Antwerpen aus von seiner Regierung zur Weltausstellung in die USA entsandt wird, der an der Frau in Weiß nicht nur aus rein künstlicheren Motiven heraus interessiert ist. Doch je mehr er über sie erfährt, desto mehr kommen bei ihm verdrängte Erlebnisse an die Oberfläche. Vor allem die junge Billie Henderson, bei der sich schnell herausstellt, daß sie die Geliebte eines älteren, ebenfalls an Bord befindlichen, verheirateten Geschäftsmannes ist, erinnert ihn eine seine eigene Geliebte. Und genau wie bei der Frau in Weiß, die sich allen mit dem Namen Valentina Mayer vorstellt, geht es auch um ein Kind. Doch während seines irgendwo im Waisenhaus lebt, ist das von Valentina tot.

Stück für Stück erfährt der Leser mehr über die jeweiligen Traumata der Reisenden der gehobenen Mittelschicht. Nur die wenigsten von ihnen leben frei von Zwängen, bei einigen sind sie selbst gemacht und nicht notwendig, andere hingegen haben keine Möglichkeit, diesen zu entkommen. Die Tage der Überfahrt, die alle auf relativ engem Raum miteinander verbringen müssen und die wegen eines Unwetters für die meisten äußerst unangenehm sind, bringen viele von ihnen zum Reden. Der Schiffsarzt erkennt viele der emotionalen Tragödien, die sich abspielen, und versucht zu helfen, doch die morphiumsüchtige Miss Witherspoon und ihr als Geologe um die Welt reisender Bruder stellen neben der Frau in Weiß besonders schwierige Fälle für ihn dar.

Als das Schiff Ellis Island erreicht, gehen fast alle Gäste schnell von Bord, nur die Frau in Weiß darf den amerikanischen Boden nicht betreten, da sie illegal versucht hat, einzureisen. Sie muß also zurück, doch die Gefahr, daß sie von Bord springt und sich das Leben nimmt, so wie es eigentlich ihr Ziel war, besteht nicht mehr. Auch wenn sie mit ihrem verhaßten alten Leben neu konfrontiert wird, so hat sie auf der Überfahrt gelernt, daß Liebe auch nach dem mitverschuldeten Tod des geliebten Kindes möglich sein kann.      Rebecca Bellano

Dörthe Binkert: „Weit übers Meer“, dtv premium, München 2008, broschiert, 340 Seiten, 14,90 Euro


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