19.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
25.04.09 / Vereinigt und doch geteilt / Thierse fordert den vollständigen Umzug nach Berlin − Versuch, seinen Wahlkreis zu begeistern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 17-09 vom 25. April 2009

Vereinigt und doch geteilt
Thierse fordert den vollständigen Umzug nach Berlin − Versuch, seinen Wahlkreis zu begeistern

Wolfgang Thierse geht mit der Hauptstadtfrage auf Wählerfang, sein Parteichef Franz Müntefering mit der Verfassung, Unionspolitiker mit der Abschaffung des „Soli“: Berlin steht ganz im Zeichen durchschaubarer Wahlkampfmanöver.

Wolfgang Thierse hat vielen Berlinern aus der Seele gesprochen, als er den kompletten Regierungsumzug forderte. Der Bundestagsvizepräsident sagte anläßlich des zehnten Jahrestages der ersten Sitzung im Reichstag: „Das Land ist vereinigt, die Regierung zwischen Berlin und Bonn geteilt: Das ist nicht zukunftsfähig.“

Seit zehn Jahren wird Deutschland eigentlich von Berlin aus regiert, aber ein Großteil der Beamten hockt noch immer in Bonn am Rhein. Das führt nicht nur zu unnötigen Mehrausgaben für zusätzliche Gebäude, sondern auch zu hohen Reisekosten, weil Angehörige der Ministerien regelmäßig hin- und herfliegen.

Deswegen schlug sich Karl-Heinz Däke, der Chef des Bundes der Steuerzahler und sonst eher nicht unbedingt ein Freund von Wolfgang Thierse, auf die Seite des Sozialdemokraten. Es müsse jetzt eine endgültige Entscheidung „pro Berlin“ fallen. Denn: Die jährlichen Kosten der Pendelei von Bundes-Offiziellen beliefen sich auf geschätzte 23 Millionen Euro.

Für das Festhalten an zwei Regierungssitzen sprach sich hingegen Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) aus. Er pocht darauf, daß die einmal getroffenen Entscheidungen eingehalten werden müßten. Und dazu gehöre, daß „jedem klargewesen sei, daß die Verteilung der Regierungsaufgaben auf Bonn und Berlin zusätzliche Kosten verursacht“.

Hier sind die Fakten: Noch immer sitzt fast die Hälfte aller Dienststellen des Bundes mit rund 10000 Beschäftigten am Rhein. Sechs Bundesministerien haben ihren Hauptsitz dort. Außerdem wurden wichtige Bundesbehörden in Bonn als Ausgleich angesiedelt. Ihre Anwesenheit sichert Beschäftigung und der „Bundesstadt“ eine Bedeutung, die einer „Hauptstadt zweiter Klasse“ gleichkommt.

Aus Sicht der Berliner war der vollständige Regierungsumzug schon immer eine populäre Forderung. Für die FDP hätte er schon in den 90er Jahren zum Joker werden sollen. Damals schwächelte die Partei enorm. Günter Rexrodt, seinerzeit Berliner Landeschef der Liberalen und Bundeswirtschaftsminister, hätte es in der Hand gehabt, mit seinem Ministerium im Alleingang an die Spree umzuziehen. Das hätte seiner Partei einen unschätzbaren Bonus bei den Hauptstädtern eingebracht, aber der frischgekürte Minister traute sich das nicht zu. Die FDP flog 1995 aus dem Berliner Abgeordnetenhaus.

Auch danach haben immer mal wieder Politiker den kompletten Umzug gefordert, aber nichts ist passiert. Das große Pendeln zwischen den beiden Regierungssitzen geht munter weiter.

Eine andere populäre Forderung, die mit dem Vereinigungsprozeß von 1990 zusammenhängt, ist die nach einer neuen Verfassung, neuerlich vorgetragen von Franz Müntefering. Der SPD-Chef sagte, das Grundgesetz sei eigentlich nur ein Provisorium gewesen, das dann dem Osten übergestülpt worden sei, „anstatt eine gemeinsame Verfassung zu schaffen“. Das müsse aufgearbeitet werden, forderte er − und löste damit unweigerlich eine Debatte darüber aus, ob Deutschland eine neue Verfassung bräuchte.

Viele, oft widersprüchliche Sehnsüchte ranken sich um den Wunsch nach einer neuen Verfassung. Manche wollen mehr Staat, andere mehr Freiheit, wider andere wünschen mehr Religion oder aber mehr Trennung von Kirche und Staat, auch mehr Gleichberechtigung, mehr Grundrechte, einen Mindestlohn, das Recht auf Arbeit und etliches anderes werden mit dem Projekt verbunden. Müntefering weiß natürlich um die Unvereinbarkeit der zahllosen Sehnsüchte. Skeptische Beobachter wittern in seinem Vorstoß daher reine Wahlkampflyrik. Am Ende werde keiner der Vorschläge aus dem Politiker-Wunschkonzert verwirklicht. Franz Müntefering holt dabei eine ziemlich freimütige Äußerung nach der letzten Bundestagswahl ein: Es sei „unfair“, CDU und SPD an ihren Wahlkampfversprechen zu messen, hatte der SPD-Chef damals genörgelt.

Auch die Äußerungen Wolfgang Thierses hinsichtlich des Komplettumzugs der Regierung nach Berlin werden in diesem Licht betrachtet. Als Berliner Abgeordneter dürfte seine Forderung dennoch gut ankommen bei den Wählern seines Wahlkreises.  Markus Schleusener

Foto: Wolfgang Thierse, damals Bundestagspräsident, hielt am 19. April 1999 in Berlin den symbolischen Schlüssel für den Reichstag in die Höhe: Zum zehnten Jahrestag des Umzugs von Bundesregierung und Parlament vom Rhein an die Spree ist die alte Debatte über eine Auflösung des Bonner Standorts von Thierse neu angestoßen worden. Noch immer haben sechs der 14 Ministerien ihren Hauptsitz in Bonn.


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren