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02.05.09 / Die alte Angst / Kriegskinder und Nachkriegskinder leiden unter dem Trauma ihrer Eltern und Großeltern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 18-09 vom 02. Mai 2009

Die alte Angst
Kriegskinder und Nachkriegskinder leiden unter dem Trauma ihrer Eltern und Großeltern

Ob bewußt oder unbewußt, Kriegserlebnisse prägen das Verhalten der Betroffenen. Doch dadurch erschweren sie manchmal nicht nur sich, sondern auch nachfolgenden Generationen das Leben.

„Die Sirenen heulen, und ich renne in panischer Angst los, um Mutters gepackte Tasche zu holen, aber ich kann sie einfach nicht finden und weiß, ich muß in den Keller, sonst ist es aus mit mir, die lassen mich dann nicht mehr rein. Ich renne die Treppe runter, und da sind auch schon die Flugzeuge zu hören. Ich wache mit Herzrasen auf und bin ganz verwirrt.“ Die junge Frau, die Gertrud Ennulat, der Autorin von „Kriegskinder – Wie die Wunden der Vergangenheit heilen“, ihren Traum schilderte, hat den Krieg nie erlebt. Es sind die plastischen Schilderungen der Kindheitserinnerungen ihrer Großmutter, welche die junge Frau der Gegenwart nicht mehr losgelassen haben, so daß sie sogar davon träumt.

Noch heute, 64 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, ist der Krieg durchaus noch im Bewußtsein vieler Menschen vorhanden. Und er hat nicht nur jene geprägt, die ihn erlebt haben. Auch ihre Kinder und Enkelkinder wurden mit den Folgen des Krieges auf das Verhalten ihrer Verwandten konfrontiert. Dies geschah selten so direkt wie bei der jungen Frau mit den Albträumen, viel häufiger haben die Zeugen des Krieges sich aufgrund ihrer dort gemachten Erlebnisse gewisse Verhaltensweisen angeeignet, die auch ihre Nachkommen prägten.

Während heutzutage Menschen mit traumatischen Erlebnissen jahrelang in Therapie sind, um das Erlebte auszusprechen und zu verarbeiten, mußten vor allem jene Menschen, die im Krieg noch Kind waren, erleben, daß niemand mit ihnen über das Erlebte sprechen wollte, geschweige denn ihnen erklärte, was sie da eigentlich erlebt hatten.

Gertrud Ennulat, die im November 2008 nach langer Krankheit verstarb, ist selbst mitten im Krieg geboren. Als sie 1941 das Licht der Welt erblickte, wurde ihr sofort deutlich: „Reiß dich zusammen!“ Schon als Kleinkind lernte ihre Generation, daß eigene Bedürfnisse unterdrückt werden müssen. Selbst Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlaf oder Toilettengänge waren im den Stunden im Luftschutzbunker oder auf der Flucht schon von Kleinkindern zu bekämpfen. So wurden auch die eigenen Gefühle zugunsten des Überlebenswillens unterdrückt – doch nicht für immer.

„Bei meinen Gesprächen tauchte mehr als einmal die spätere Psychose eines Familienmitgliedes auf. Der Krieg war also nicht zu Ende, denn er inszenierte sich manchmal wieder in Form psychischer Erkrankungen. Die gewaltigen Kräfte der Zerstörung hinterließen Langzeitspuren, die in vielen Familiensystemen von einer Generation an die andere weitergegeben werden.“ Manche Kinder und Enkel leiden darunter, wenn sie spüren, daß ihre Eltern Erlebnisse aus Kriegstagen noch heute bewegen. Doch wie soll eine heute über 80jährige ihren gegen Kriegs-ende geborenen Kindern erklären, daß sie sich 1945 nach mehrfacher Vergewaltigung eine Krankheit zugezogen hat, wegen der sie aus Angst vor Ansteckung ihrer Kleinen diese nicht mehr berührt hat? Die Kinder hingegen haben nur gemerkt, daß ihre Mutter sie nicht mehr in den Arm genommen hat, und so wurde ihnen die einzige Tröstung – das Gefühl geliebt zu werden und geborgen zu sein – in den Tagen des Krieges und in den ersten Monaten und Jahren danach genommen. Der Zärtlichkeit der Mutter entzogen, wurden einige dieser Kinder unfähig, später ihren eigenen Kindern gegen-über zärtlich zu sein … und so wurde ein Kriegstrauma in die nächste Generation weitergegeben, obwohl keine der beteiligten Personen sich bewußt war, warum sie sich so verhielten.

Manch andere Nachkriegskinder leiden darunter, daß ihre Eltern und Großeltern zu viel und absolut unreflektiert vom Krieg erzählen. Doch eine Einordnung des Erlebten sei notwendig, um es zu verarbeiten, so Ennulat.

„Ich war beim Speicher-Aufräumen … In dem Durcheinander tauchte plötzlich eine Erinnerung auf: Meine Mutter und ich stehen in der Wohnung in Schlesien. Mutter muß entscheiden, was wir mitnehmen. Die Front kam ja immer näher. Das Schlimmste war, daß meine Mutter weinte, aber ich wußte nicht, was los ist, sie sagte ja nichts, und ich traute mich nicht zu fragen. Die Koffer und der

Rucksack, das Bettzeug – ich hatte keine Vorstellung, was auf uns zukommt.“ Immer wieder traf Gertrud Ennulat bei ihren Recherchen auf Menschen, die erst im Alter plötzlich von Erinnerungen regelrecht überfallen werden. Die alte Angst, welche die Menschen als Kinder spürten, ist mit einem Mal genauso gegenwärtig wie die Bilder vor dem inneren Auge. Doch das Vergessene einfach wieder zu verdrängen, sei nicht effektiv, so die Autorin. Nur wer das Kriegskind in sich bewußt aus seinem Schattendasein befreie, könne letztlich auch mit ihm gut leben. Rebecca Bellano

Gertrud Ennulat: „Kriegskinder – Wie die Wunden der Vergangenheit heilen“, Klett Cotta, Stuttgart 2008, broschiert, 204 Seiten, 16,90 Euro

Foto: Auf der Flucht: Kinder werden mit dem Unbegreiflichen konfrontiert, das selbst Erwachsene nicht bewältigen können. Die ARD beschäftigte sich kürzlich mit dem Thema „Kriegskinder“.


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