20.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
09.05.09 / Kindergräber im Dünensand / Ein deutsch-dänischer Briefwechsel zur Kindersterblichkeit in dänischen Flüchtlingslagern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 19-09 vom 09. Mai 2009

Kindergräber im Dünensand
Ein deutsch-dänischer Briefwechsel zur Kindersterblichkeit in dänischen Flüchtlingslagern

Es gibt Themen, die wir zwar in unserer wöchentlichen Rubik „Die Ostpreußische Familie“ anschneiden, aber nicht weiter behandeln können, weil sie in unserem Leserkreis und darüber hinaus auf ein so großes Interesse stoßen, daß sie eine eingehende Präsentation benötigen. Dazu gehört die Frage, die uns von dem dänischen Lehrer Peer Söndergaard gestellt wurde, der vor deutschen Schülern über das Leben der deutschen Flüchtlinge in dänischen Lagern 1945 bis 1948 referieren sollte, nach Zeitzeugen und ihren Erlebnissen in der Internierung. Das Material, das ihm vorlag, erschien ihm zum Teil nicht authentisch, die Berichte widersprüchlich. Wir veröffentlichten seine Bitte kurz vor Weihnachten, und sie lief trotz der für eine größere Leserumfrage ungünstigen Zeit nicht ins Leere. Herr Söndergaard erhielt viele Zuschriften, vor allem zu dem von ihm besonders herausgestellten Thema „Kindersterblichkeit“. Sie erbrachten für den Dänen wichtige Informationen, es gab neben Hinweisen auf geeignetes Informationsmaterial auch Berichte älterer Flüchtlinge über ihre Zeit hinter dänischem Stacheldraht und sogar auch Ausführungen von damaligen Lagerkindern, die sich mit ihrem Schicksal beschäftigt hatten. Ein Vorgang fiel aber aus dem schon breit angelegten Rahmen: Ein behutsam von beiden Seiten geführter Briefwechsel zwischen Peder  Söndergaard und unserer Leserin Eva Droese aus Kiel, der so aufschlußreich ist, daß wir ihn in Auszügen bringen wollen. Der Däne hätte auch keine bessere Informantin finden können: Die aus Balga geflüchtete junge Frau mußte ihren im Lager Söra geborenen Sohn schon bald in dänische Erde betten, er verstarb neun Tage nach der Geburt. 

Frau Droese übersandte mir diesen Briefwechsel mit folgenden Zeilen: „Sie werden nicht müde, zu helfen und zu suchen, und deshalb möchte ich Ihnen mitteilen, daß Sie wieder Erfolg hatten bei der Suche nach ehemals Dänemark-Internierten. Ich gehöre zu den wenigen Zeitzeugen und konnte Herrn Peder Söndergaard meinen Internierungsbericht zusenden. Inzwischen hat sich ein reger Briefwechsel entwickelt, den ich Ihnen nicht vorenthalten möchte, denn es ist ganz interessant zu lesen, wie ein „Nachgeborener“ diese Zeit verarbeitet. Vermutlich wird der Briefwechsel noch anhalten, denn ich werde Herrn Söndergaard mit weiteren guten Informationen versorgen.“ Und uns auch, liebe Frau Droese, und dafür möchten wir herzlich danken.

Der erste Brief, den Eva Droese am 14. Dezember 2008 schrieb und mit mehreren Unterlagen versah, beginnt mit dem Hinweis auf die PAZ und unsere Familie, der Anlaß war, an den Dänen zu schreiben: „Mit meinen 83 Jahren gehöre ich zu den Zeitzeugen, die in den Jahren 1945 bis 1949 dort interniert waren. Jahrzehnte hatte ich eine Aversion gegen Dänemark und konnte das Land nicht besuchen, aber nun, nachdem ich mit Herrn Gammelgaard, dem Autor mehrerer Bücher über dieses Thema, Frieden geschlossen habe, bin ich ruhiger und habe Dänemark besucht. Ich habe vergeben, aber nicht vergessen. Wie ich in meinem beiliegenden Bericht erwähne, lehnten die dänischen Ärzte es ab, deutsche Kranke zu behandeln, ebenso schloß sich das Dänische Rote Kreuz dieser Vereinbarung an. Viele Kinder hätten gerettet werden können, wenn man ihnen geholfen hätte. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, daß die Haltung der Lager unterschiedlich war. Oksböl hatte eine vollständige Verwaltung mit allen dazugehörenden Einrichtungen, während die kleinen Lager mit allem unterversorgt waren, wenn man bedenkt, nicht einmal ein Stückchen Zeitungspapier für die Notdurft – in Oksböl, so kann sich eine damals Zehnjährige heute noch erinnern, konnten sie sich aus Toilettenpapier heimlich Notizblöcke anfertigen. Ganz schlimm habe ich die Abgrenzung zu den Dänen empfunden, wir waren uns selbst überlassen, und es war uns sogar verboten, die dänische Sprache zu erlernen. Wenn Sie noch Fragen haben, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung, denn Einzelheiten während meiner Internierungszeit, auch mit Emotionen verbunden, habe ich nicht erwähnt.“

Herr Söndergaard hatte noch Fragen, wagte sie aber noch nicht zu stellen. Er bedankt sich am 6. Januar 2009 in einem langen Schreiben für die Mühe, die sich Frau Droese mit ihren Ausführungen gemacht hat. „Sie haben einen Bericht geschrieben, der mich weiterbringen wird, und ich danke Ihnen sehr dafür. Ich spüre, daß Sie empfinden, daß Ihre menschliche Würde in Dänemark verletzt wurde und daß Sie den Amtspersonen gegenüber, von denen Sie in der Zeit in Dänemark abhängig waren, Machtlosigkeit gespürt haben. Es tut mit leid, daß Sie immer noch leiden, aber hoffentlich hat es nicht Ihren Alltag mit Freunden und Familie geprägt. Es werden überall Fehler begangen, und die Übergriffe, die Sie erlebt haben, zeigen eine abgestumpfte Menschheit, von der ich mich nur distanzieren kann. Vieles würde man heute anders machen, aber die Zustände unter und nach einem Krieg sind nicht normal.“

Peder Söndergaard berichtet dann ausführlich, wie weit er mit seinen Nachforschungen über die Ärztehilfe für deutsche Flüchtlinge und die Kindersterblichkeit in dänischen Lagern gekommen ist und gibt verschiedene Quellen an. „Es ist viel gesagt und geschrieben worden, sowohl Wahres wie auch Falsches – über die Übersterblichkeit der deutschen Flüchtlingskinder, so daß es eine fast unmögliche Aufgabe sein wird, die vielen Aussagen zu verifizieren oder zu dementieren. Sollten es aber Dinge sein, die Sie nicht verstehen oder in denen Sie sich nicht einig sind, dann schreiben Sie mir bitte, und ich werde mein Bestes tun, um das Verständnis zu erleichtern. Ich wohne in dem deutsch-dänischen Grenzland, und obwohl wir in unserer früheren gemeinsamen Geschichte ein problematisches und gespanntes Verhältnis hatten, ist die Lage heute ganz anders, denn jetzt leben wir nicht gegeneinander, sondern füreinander.“ Mit konkreten Fragen will er wohl noch warten, denn er glaubt, daß damit bei seiner Briefpartnerin wieder alte Wunden aufgerissen werden könnten.

Eva Droese antwortet schnell und präzise: „Es tut gut, ruhig über ein brisantes Thema sprechen zu können, Vorweg möchte ich Ihnen sagen, daß ich trotz der schlimmen Erlebnisse nach einer geraumen Zeit Ruhe gefunden habe und 53 Jahre lang ein glückliches und erfülltes Leben führen  konnte. Mein  Mann ist leider vor zwölf Jahren verstorben, aber meine Familie – mit drei Enkelkindern – trägt mich. Die Gedanken gehen natürlich immer Wege, die sich eingebrannt haben, aber schmerzen nicht mehr so. Wir waren nicht heimatlos, sondern recht- und schutzlos, selbst den Stolz hat man uns gebrochen. Trotz allem habe ich auch freundliche, hilfsbereite und mitleidige Dänen erlebt, aber selbst sie wurden von einer damals herrschenden Gruppe unterdrückt. Mein kleiner Sohn hat ein gepflegtes Grab auf dem Kriegsgräberfriedhof in Gedhus, und mein drei Jahre später geborener Sohn hat ihn aufgesucht und Fotos von der Grabstelle gemacht.“

Frau Droese kommt damit auf die Übersterblichkeit der Säuglinge und Kleinkinder zu sprechen. „Auf der Flucht sind schon unendlich viele Kinder verstorben. Als sie in Dänemark ankamen, waren sie von der zum Teil wochenlangen Flucht geschwächt oder erkältet. Ernährungsstörungen kamen hinzu, denn die Verpflegung war unregelmäßig und nicht ausreichend. In Dänemark gab es Milch, was wiederum Ernährungsstörungen nach sich zog.

Die kleinen Körper schafften es einfach nicht. Wenn man von dänischer Seite wenigstens versucht hätte, medikamentös etwas für die Kinder zu tun, wäre vielleicht nur die Hälfte gestorben. Tee hätte etwas geholfen und Kohle, aber wir hatten im Lager nur braunes Moorwasser, das wurde auch meinem Säugling verabreicht. Ich habe nicht das Recht zu richten, im Krieg und auch danach geschehen Dinge, die man nicht unter Kontrolle hat. Man muß versuchen, auch die Situation der Dänen zu verstehen, das kleine Land war überfordert, und es wäre alles nicht so schlimm und verletzend geworden, wenn bei einigen Dänen nicht der Haß auf alles Deutsche eine so große Rolle gespielt hätte. Sie, lieber Herr Söndergaard, sollten sich damit nicht belasten, Sie haben für die Nachwelt Dokumente erstellt, die spätere Generationen davor warnen sollen, die Menschlichkeit nicht zu vergessen. Sechs Angehörige meiner Familie sind nach Kriegsende in unserer Heimat, die jetzt zu Rußland gehört, umgekommen. Dagegen ist es uns selbst hinter Stacheldraht noch gut gegangen.“

Ihr dänischer Briefpartner war anscheinend von diesem langen - hier nur in Auszügen wiedergegebenen – Brief so beeindruckt, daß er zuerst Frau Droese eine E-Mail zusandte: „Ich bin sehr dankbar, daß Sie an mich denken und überrascht, mit welcher Energie Sie arbeiten, und ab und zu spüre ich ein ganz junges Mädchen. Sie bekommen bald einen Bericht!“ Am gleichen Tag hatte Frau Droese ihm die Tagebuchaufzeichnungen einer ostpreußischen Flüchtlingsfrau zugesandt, die ebenfalls mit ihren Kindern in Dänemark interniert war, in dem aber nichts über Kindersterblichkeit stand. Frau Droese erklärt das so: „Die Lager wurden eben vollkommen unterschiedlich geleitet. Es gab gute Lagerkommandanten mit Herz und, was ganz gravierend war, es hing eben auch viel von der Lage ab. In dem Fall der Tagebuchschreiberin konnten sich ihre Kinder in einem großen Areal mit Wald und einem kleinen See bewegen. Mein Lager Söra stand auf freiem Feld, eng ohne Baum und Strauch, es war die ehemalige Station der Einmann-Torpedos. Hier starben viele Kinder. Sie können das daraus ersehen, daß an einem Tag, als mein kleiner Sohn beerdigt wurde, noch vier Kinder in das gleiche Grab gelegt wurden.“

Auch für ihre Aktivität in dem so hohen Alter hat die 83jährige eine Erklärung: „Ich arbeite seit Jahrzehnten für meinen Heimatkreis Heiligenbeil, schreibe für das jährliche Heimatbuch, bin über alle Vorgänge informiert und habe auch zu Herrn Gammelgaard Kontakt. Für alles Neue bin ich immer noch aufgeschlossen und habe durch meine frühere Tätigkeit in der Heimat schon vielen Menschen helfen können. Der Briefwechsel mit Ihnen tut mir gut. Auf Ihre angekündigte Post freue ich mich schon.“

Eva Droese brauchte nicht lange zu warten. Es kam ein sehr langer Brief mit vielen statistischen Unterlagen über die Sterblichkeit in dänischen Internierungslagern und umfangreichen Ausführungen zu der medizinischen Versorgung durch deutsche und dänische Ärzte. Wobei Herr Söndergaard auch auf die vor der Kapitulation erschossenen dänischen Ärzte hinwies, darunter Fälle, die sich noch dann ereigneten, als bereits über Ärztehilfe für deutsche Flüchtlinge verhandelt wurde. Diese und andere Themen können hier aber auch nicht annährend behandelt werden, sie verlangen eine gesonderte Bearbeitung. Aber endlich werden Frau Droese konkrete Fragen von ihrem Briefpartner gestellt. Zuerst will der Däne wissen, wie die Jahre 1939 bis 1944 in Eva Droeses Heimatort Balga verliefen, ob sie Mitglied im Bunde Deutscher Mädchen (BdM) war, kommt dann auf die Flucht zu sprechen, ob sie Beerdigungen gesehen hätte, wie die Verhältnisse auf dem Schiff waren, mit dem die junge Frau mit ihren Eltern von Gotenhafen aus flüchtete – am 13. März 1945 mit dem Handelsschiff „Eberhard Essberger“, das in 12 Einsätzen 66650 Menschen rettete –, und wie der weitere Transport zum Lager erfolgte. Frau Droese konnte diese Fragen ausführlich beantworten wie auch die, ob sie im Lager einer Razzia ausgesetzt wurden – die sie bejahen konnte – und auch die unterschiedlichen Entlassungstermine erklären, denn ihre Eltern erhielten erst 1948 eine Zuzugsgenehmigung nach Deutschland, die Tochter ein Jahr früher. Ja, und dann die Quintessenz dieser eingehenden Befragung: „Was ist Ihrer Meinung nach die Ursache, daß deutsche Flüchtlinge ihren Aufenthalt in Dänemark so unterschiedlich empfunden haben“?  Das Thema hatte Frau Droese ja schon in ihren Briefen wiederholt angeschnitten, und sie faßt noch einmal ihre Erfahrungen und Erkenntnisse zusammen:

 „Das ist ganz einfach zu erklären, denn es waren die großen Unterschiede der einzelnen Lagerführungen. Es hat Lager gegeben, da haben die Internierten bis auf ihre Freiheit kaum etwas entbehrt. Auch die landschaftliche Lage spielte – wie schon angedeutet – eine Rolle. Es kommt aber hauptsächlich auf die Mentalität und Empfindungen der einzelnen Menschen an. Nicht jeder konnte sich damit abfinden, eingesperrt zu sein. So war ich nach dem Tod meines Kindes und der großen Traurigkeit nur von dem Gedanken beseelt, meinen Mann wieder zu finden. Ich denke dabei aber an meine Eltern. Meine Mutter weinte immer wieder und bat meinen Vater, er möge sie nach Hause bringen. Wir waren doch alle aus unserem geliebten Lebenskreis herausgerissen, schutzlos und hilflos und wissend, daß wir mehr als unwillkommen waren Wir hatten keine Zukunft!“

Ihr letztes mir vorliegendes Schreiben ergänzt noch einige Fragen und endet mit der Hoffnung „daß wir uns auch weiter verstehen, wenn wir uns auch nicht immer einig sein können, aber mit gutem Willen und christlicher Einstellung kann es immer ein Miteinander geben“. Das beweist auch Peder Söndergaard, denn er will das Grab ihres kleinen Sohnes Klaus Walter Droese in Gedhus besuchen. Gestorben am 30. Mai 1945 wie 7745 deutsche Kinder in dänischen Flüchtlingslagern allein in jenem Schick­sals­jahr. Ruth Geede

Foto: Das Leben – wenn man es so nennen will – in den Flüchlingslagern war geprägt vom täglichen Kampf ums Überleben.


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren