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16.05.09 / Super-Gau statt Super-Coup / Türkei: Statt Applaus für einen neuen Superminister erntet Erdogan Kritik wegen des Bilge-Massakers

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 20-09 vom 16. Mai 2009

Super-Gau statt Super-Coup
Türkei: Statt Applaus für einen neuen Superminister erntet Erdogan Kritik wegen des Bilge-Massakers

Beim Massaker im südosttürkischen Bilge am 4. Mai starben 44 Menschen. Ministerpräsident Erdogan hat es sich viel zu einfach gemacht, als er dabei mit Blick auf Ehrenmorde und Blutrache nur von „schrecklichen Traditionen“ sprach. Die Gewalttat hängt auch mit dem ungelösten Kurdenproblem, also mit der Regierungspolitik, zusammen.

Eigentlich hatte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sich feiern lassen wollen. Stolz hatte er, dessen Partei AKP bei der Kommunalwahl im März nur noch 39 Prozent und somit acht Prozentpunkte weniger als bei der letzten Wahl geholt hat, der Öffentlichkeit seine Wunderwaffe gegen die Wirtschaftskrise präsentiert: Superminister Ali Babacan. Doch nicht lange beschäftigten sich die Medien mit dem neuen Wirtschaftsminister, der für die Türkei beim Internationalen Währungsfonds (IWF) um Unterstützung bitten soll. Der Name Babacan wurde von dem Ortsnamen Bilge verdrängt.

Prompt machte Erdogan bezüglich dieses Massakers mit 44 Toten ähnliche Fehler wie bei der Wirtschaftskrise. Bei der hatte er großspurig verkündet, sie würde an der sich im Wachstum befindlichen Türkei vorbeiziehen. Damals jedoch sprachen die Wirtschaftsdaten bereits eine andere Sprache. Selbst die Regierung muß inzwischen eingestehen, daß die Entwicklung in allen Wirtschaftsbereichen rückläufig ist. Man spricht von einem Minus von 3,6 Prozent. Der IWF erwartet gar ein Minus von 5,1 Prozent und will Ankara nur einen Kredit geben, wenn es eine Steuerreform durchsetzt und eiserne Haushaltsdisziplin wahrt. Doch das sind unangenehme Maßnahmen, die Erdogans schwächelnde, islamisch-konservative AKP nur ungern ihren Wählern zumuten möchte, lag die Partei doch bei den letzten Umfragen nur noch bei 33 Prozent Wählerzustimmung. Derweil brechen Industrieproduktion, Handel, Konsum und Investitionstätigkeit weg, die Arbeitslosigkeit hat das Rekordniveau von 15,5 Prozent erreicht, und Erdogans Regierung handelt dennoch erst jetzt.

Auch im Fall von Bilge stellte sich Erdogan nicht der Realität. „Keine Tradition kann eine Entschuldigung für ein solches Verbrechen sein“, sagte der türkische Ministerpräsident den Medien, während Sicherheitskräfte den Ort des Schreckens vor der Öffentlichkeit abschirmten. Telefonverbindungen wurden unterbrochen und Journalisten der Zugang verweigert. Erdogan Rückgriff auf die Tradition der Blutfehde, die als erste Antwort auf die Motive der Attentäter die Runde machte, wird inzwischen nur als Ausflucht gedeutet. Er habe vereinfachend die „schrecklichen Traditionen“ der Blutfehde wegen eines Streites um die Braut als einzig mögliche Antwort gelten lassen. Somit habe er das Massaker entpolitisiert. Dies war für ihn auch die einfachste Lösung, da vor allem der Westen seine Vorurteile über den rückständigen Südosten der Türkei bestätigt sah und nicht weiter nachgefragt hätte ... wenn nicht in der Türkei Stimmen laut geworden wären, die Erdogans Erklärung hinterfragt haben.

„Dieser Fall hat mehrere Dimensionen. Ich kann mich an keinen Ehren- oder Sittenmord mit ähnlicher Brutalität oder Grausamkeit erinnern. Ein Aspekt hängt mit Frauen zusammen“, so die Frauenrechtlerin Nehabat Akkoc, die darauf verweist, daß Mädchen in der Gegend selten zur Schule geschickt werden. Ohne Bildung und Wissen von der Welt würden sie sich willig von ihrem Familienclan im archaischen Spiel um die Ausweitung des jeweiligen Einflußbereiches verheiraten lassen. Da die gewachsenen Machtgefüge der Region sich in den letzten 25 Jahren durch Einflußnahme aus Ankara massiv verändert hätten, bliebe nur eine geschickte Heiratspolitik … oder der Griff zu den Waffen, um im System der Dorfschützer zu bestehen. Die Dorfschützer erhalten vom türkischen Militär Sold und werden mit Waffen ausgestattet. Mit diesen Waffen wurde das Massaker verübt.

Die Aufgabe der Dorfschützer ist es, die von Ankara als Terroristen gejagten kurdischen Rebellen der PKK zu bekämpfen. Die Dorfschützer, etwa 70000 an der Zahl, sind meist ebenfalls Kurden, die sich allerdings loyal gegenüber der türkischen Regierung gezeigt haben. Sie haben inzwischen die Macht im Südosten der Türkei, da Ankara sie gewähren läßt, so lange sie die PKK im Schach halten. Zwar weiß man in der fernen, modernen Hauptstadt, daß das auf Kosten des Fortschritts und des Rechts geht, aber das ist der Preis, den vor allem das sehr autonom agierende türkische Militär zu zahlen bereit ist. Auch Erdogan hat nie interveniert. Er hat es hingenommen, daß nur der Westen der Türkei fortschrittlicher wird. Zwar leidet derzeit vor allem die im Westen befindliche Autoindustrie unter der Wirtschaftskrise − Fiat, Ford, Renault-Dacia, Toyota und Honda haben in der Türkei Produktionsstätten −, doch hier gibt es immerhin eine Industrie. Im Südosten dreht sich hingegen fast alles nur um die Landwirtschaft. Streitigkeiten um die rechtswidrige Aneignung von Land durch die Dorfschützer sind alltäglich. Hinzu kommen Drogengeschäfte. Da der Region die wirtschaftliche Basis fehlt, bleibt vielen jungen Männern nur die Möglichkeit, sich den Dorfschützern anzuschließen.

Zwar gibt es – auch dank des Drucks der EU – inzwischen Gesetze in der Türkei, um blutigen Traditionen und kriminellen Auswüchsen Einhalt zu gebieten, doch Erdogans Regierung drängt nicht auf ihre Umsetzung. Doch wenn Erdogan nicht endlich offen gegen das Problem vorgeht, kann er noch viele Superminister ernennen: Sein Rückhalt in der Bevölkerung dürfte weiter sinken.    Rebecca Bellano

Foto: Hoffnungsträger: Erdogan (Mitte) setzt in der Krise voll auf seinen Wirtschaftsminister Babacan (r.).


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