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23.05.09 / »Geister, Götter, Gabelbieger« / In Bibliotheken und Buchhandlungen biegen sich die Regale unter der Last angeblich geheimnisvermittelnder Literatur

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 21-09 vom 23. Mai 2009

»Geister, Götter, Gabelbieger«
In Bibliotheken und Buchhandlungen biegen sich die Regale unter der Last angeblich geheimnisvermittelnder Literatur

Denn die Vorstellungskraft des eingeschlafenen Menschen erreicht mit der Gewalt seiner jetzt unabhängigen und einsamen Seele etwas von der Vollendung der Geister“, läßt Charles Nodier (1780–1844) den Lorenz in der Erzählung „Smarra oder Die Dämonen der Nacht“ kurz vor dem Hineinsinken in den Schlaf sagen. Nodier veröffentlichte dieses spektakuläre Entsetzensstück 1821. Heute biegen sich die Regale in öffentlichen Bibliotheken und vor allem in Buchläden unter der Last „geheimnisvermittelnder“ Literatur. Spezielle Abteilungen wurden eingerichtet mit der weihevollen Bezeichnung „Esoterik“.

Da stehen sie nun, Bände über Bände, die dem „Eingeweihten“, dem tiefgründigen Menschen Einsicht gewähren in Okkultismus, Spiritismus, Parapsychologie, außerweltliche Machteinwirkung, Weltuntergangs-Prophetie, Astrologie, Hypnose. Mythen und Märchen abend- und morgenländischer Überlieferung, mystisch verwoben mit dem Heute. Sie verlocken Zigtausende zur Lektüre. Zur Freude der Buchhändler verführen die Produkte übernatürlichen Sinngehalts zum Kauf. Schon einzelne Titel fordern blanke Besitzgier heraus: „Geister, Götter, Gabelbieger“; „Wissenschaftliche Erforschung und praktische Nutzung übersinnlicher Kräfte des Geistes und der Seele“; „Vom Leben nach dem Tode“.

Selbst Pragmatikern und Realisten geht es durchaus zuweilen gegen den Strich, daß heutzutage fast alles berechenbar, alles erklärbar ist. Infolgedessen begeben sich stocknüchterne Kaufleute, Banker, Bürokraten, Ärzte und viele andere auf die „Suche nach dem Wunderbaren“. Und ist es denn eigentlich so erstaunlich, wenn der Facharzt für Enddarm-Leiden sich nach des Tages Müh und Plag in die „Twilight Zone“ zurückzieht? Die amerikanische Autorin Pamela Sargent ist jedenfalls überzeugt: „Horror-Stories sind Balsam für die Seele. Nach einer guten Gruselgeschichte kommt einem das wirkliche Leben wieder ganz erträglich vor.“ Erträglich! Soll es damit sein Bewenden haben? Soll gar nichts aus dem „Magischen Dunkel“ in den tristen Alltag herüber glitzern? Österreichische Theologen sind anderer Ansicht. Die renommierte „Theologisch-praktische Quartalsschrift“ der theologischen Hochschule Linz veröffentlichte einen Artikel, der sich mit dem ruhelosen Umherschreiten des 1863 verstorbenen Dichters Friedrich Hebbel in seinem Wiener Haus, Liechtensteinstraße 13, befaßte. Der Autor des Beitrags, Pfarrer Wilhelm Manter, kirchlich anerkannter Fachmann für paranormale Phänomene, vertritt die Meinung, daß des Dichters „Astralleib“ sehr wohl durchs Haus geistern könne. Man spreche in einem solchen Falle von der ortsgebundenen „Restfunktion“ des Verblichenen.

Zu den zahlreichen praxisbezogenen Leitfäden zum Thema „Hellsehen, Telepathie und Hypnose“ greifen Leser, die Licht in die Geheimnisfinsternis zu tragen wünschen. Es treibt sie zu Weltraumwellen-Forschung und Zukunftserhellung. Selbstverständlich stehen sie dem „Erlebnis der Wiedergeburt“ aufgeschlossen gegenüber. Fasziniert folgen sie den Autoren wiedergeburtlicher Erleuchtungsschriften in zeitlose Räume.

Sie lesen, wie unter Einsatz von Augen und beschwörender Stimme der Hypnotiseur den Hypnosewilligen in den Mutterleib zurückkatapultiert. Von der schützenden Höhle geht es dann noch weiter zurück in die verschiedenen, gelebten Leben.

Wahrlich, wer auf diese Weise erfährt, wie er in früheren Existenzen geschunden wurde, auf dem Scheiterhaufen ums Leben kam, gefräßigen Löwen zur Mittagsfütterung diente, der muß, sobald er aus der Hypnose erwacht, die Jetztzeit recht erfreulich finden.

Dennoch wird sich der von solcher Literatur angesprochene Leser still und heimlich mit dem Geschehen identifizieren. Schon aus dem Grunde, weil er will, daß es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die das Herz des Geheimnissuchers höher schlagen lassen.

Andere traumtänzerische Leser greifen zu Science-Fiction- und Fantasy-Literatur. Sie nehmen am Krieg der Sterne teil, schweben im Feenreigen mit, verwandeln sich unter dem Gebot bösen Fluches in Wölfe und Falken und werden während einer Sonnenfinsternis erlöst. Erschüttert atmet man auf.

Grauen, Schauder, Schrecken, bizarre Erotik bilden die Essenz aller übersinnlicher Literatur. „Aus der Narbe Polemons floß Blut, und Meroe, trunken vor Wollust, hob über die gierige Gruppe ihrer Gefährtinnen das zerfleischte Herz des Soldaten, das sie seiner Brust entrissen hatte. Den nach Blut dürstenden Töchtern Larissas verweigerte sie seine Fetzen und verteidigte sie hartnäckig gegen sie. Smarra schützte mit seinem schnellen Flug und seinem drohenden Pfeifen die grauenhafte Eroberung der Königin des nächtlichen Entsetzens.“

Charles Nodier, über den damaligen Mißerfolg von „Smarra“ enttäuscht, hatte dennoch die Ansicht vertreten, daß der Bereich des „modernen Phantastischen“ wunderbarer sei als alles andere.

Der Schriftsteller sollte recht behalten. Rund 160 Jahre später überschwemmte die Flutwelle „Esoterik“ auch den letzten, um Hilfe rufenden Bibliothekar. Esther Knorr-Anders


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