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30.05.09 / Kampf um die Deutung der Geschichte / Warschau und Moskau reagieren allergisch, wenn historische Tabus infrage gestellt werden

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 22-09 vom 30. Mai 2009

Kampf um die Deutung der Geschichte
Warschau und Moskau reagieren allergisch, wenn historische Tabus infrage gestellt werden

Die „Spiegel“-Geschichte über „Hitlers europäische Helfer beim Judenmord“ hat in Warschau allergische Reaktionen ausgelöst. Rußland will unliebsame Deutungen der Sowjet-Geschichte – insbesondere im Baltikum und in der Ukraine – nun sogar mit strafrechtlichen Mitteln unterbinden.

Wieder einmal werden Politik und Medien in der Mitte und im Osten Europas von heftigen geschichtspolitischen Debatten umgetrieben. Aufhänger sind die vom „Fall Demjanjuk“ ausgelösten Dis-kussionen über die Mitschuld ukrainischer, polnischer, rumänischer und anderer nicht-deutscher Täter am Holocaust.

Die „Spiegel“-Titelgeschichte  „Die Komplizen - Hitlers europäische Helfer beim Judenmord“ erregte insbesondere in Polen die Gemüter. Vorwürfe, das Hamburger Magazin relativiere NS-Verbrechen, verbinden sich mit der Furcht, das sorgsam gepflegte nationale Selbstbild eines reinen Opfervolkes könnte Kratzer erhalten. Ex-Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski mutmaßte: „Die Deutschen versuchen, die Schuld für ein gigantisches Verbrechen abzuschütteln“, der Publizist Piotr Semka schrieb: „Der Artikel bestätigt die schlimmsten Befürchtungen über den Wandel, der sich im deutschen Denken über den Zweiten Weltkrieg abzeichnet“, und An-drzej Kaniewski ereiferte sich im Boulevardblatt „Fakt“: „Solche Texte gehören in die Mülltonne und nicht in eine Zeitschrift, die auf der ganzen Welt zitiert und von Millionen Deutschen gelesen wird! ... Diese historischen Analphabeten waschen in der neuesten Ausgabe die Deutschen rein und versuchen, den Polen eine Mitverantwortung für die Vernichtung der Juden im Zweiten Weltkrieg einzureden.“

Doch nicht nur Polen wettern gegen Deutsche und Rumänen geraten angesichts des früheren landeseigenen Massenphänomens Antisemitismus in Selbstzweifel. Rußland schickt sich gerade an, auf veränderte Deutungen der Zeitgeschichte mit massiven staatlichen Strafmaßnahmen zu antworten. Die alljährliche Siegesparade am 9. Mai war kaum vorbei und die zahlreichen Spielfilme und Fernsehserien aus diesem Anlaß noch in frischer Erinnerung, da erklärte Präsident Medwedew die Angelegenheit zur Chefsache. Per Dekret ordnete er die Bildung einer 28köpfigen Sonderkommission unter Leitung des Chefs der Präsidenten-administration Sergej Naryschkin an. Diese nahm am 19. Mai ihre Tätigkeit auf und soll die „historische Wahrheit“ unter anderem über den Zweiten Weltkrieg gegen „Fälschungen“ verteidigen. Sie setzt sich aus Vertretern des Nationalen Sicherheitsrates, des Außen-, Justiz- und Kulturministeriums, des Ministeriums für Regionale Entwicklung, der Duma, des Staatsarchivs, aber auch des Inlandsgeheimdiensts FSB und der Auslandsaufklärung SWR zusammen. Offiziell heißt das Gremium „Kommission beim Präsidenten der Russischen Föderation für Gegenmaßnahmen gegen Versuche der Verfälschung der Geschichte zum Schaden der Interessen Rußlands“.

Schon die Zusammensetzung zeigt, daß es in erster Linie nicht um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung geht, sondern um wirkliche oder vermeintliche nationale Interessen. Selbstgestellte Aufgabe ist es, die Arbeit der verschiedenen staatlichen Stellen zum „Schutz der historischen Wahrheit“ abzustimmen, eine Strategie auszuarbeiten und gezielte Maßnahmen vorzuschlagen. Im Fokus stehen vor allem laufende Geschichtsdiskussionen in den baltischen Staaten und in der Ukraine. Dabei geht es beispielsweise um die strittige Bewertung der estnischen, lettischen und ukrainischen Waffen-SS-Divisionen. Während Rußland diese Soldaten kollektiv als faschistische Verbrecher hinstellt und jede Rehabilitierung barsch ablehnt, setzt sich in Ostmitteleuropa eine differenziertere Wahrnehmung durch. In Lettland nehmen SS-Veteranen schon seit Jahren an offiziellen Gedenkveranstaltungen zum Kriegsende und zum Unabhängigkeitstag teil. Die russische Diplomatie reagierte darauf stets mit harschen Protestnoten.

Beim Blick auf die Ukraine stört sich Rußland seit Jahren an der Debatte um den sogenannten „Holodomor“. Dieser Begriff leitet sich von holod = Hunger und mor = Seuche ab und bezeichnet den millionenfachen Hungertod, der dem Höhepunkt der stalinistischen Zwangskollektivierungen in den Jahren 1932/33 folgte und in der Ukraine einen von Moskau gewollten genozidartigen Charakter hatte. Außerdem lud Präsident Viktor Juschtschenko zum Ärger des Kreml kürzlich neben Veteranen der Roten Armee auch Angehörige der einstigen antisowjetischen „Ukrainischen Aufstandsarmee“ (UPA) zu offiziellen Feiern aus Anlaß des Kriegsendes ein. Deren von Stepan Bandera geführter verzweifelter Unabhängigkeitskampf richtete sich nicht nur gegen die Wehrmacht, sondern mehr noch gegen die sowjetrussischen Okkupanten, die den letzten Widerstand in der Westukraine erst Mitte der fünfziger Jahre brechen konnten. In der Stadt Stanislau (ukrainisch Iwano-Frankiwsk) wird derzeit an einem monumentalen Denkmal für Bandera gearbeitet, in dem dieser auch seine endgültige Ruhestätte finden soll.

Verständlichen Unmut hat in Rußland verursacht, daß im Vorfeld der Feiern zum 64. Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg an vielen Orten in Polen, Estland und anderen einst von der UdSSR beherrschten Gebieten Kränze an sowjetischen Ehrenmälern verbrannt oder Gedenktafeln beschmiert wurden. Als im April in Lemberg obendrein anonyme Plakate mit der Aufschrift: „Die ukrainische Galizien-Division. Sie haben die Ukraine verteidigt“ (gemeint ist die SS-Freiwilligen-Division „Galizien“) auftauchten, veranstalteten russische Presseorgane ein Riesentheater.

Die in Reval (Tallinn), Riga und Wilna als grausame Höhepunkte sowjetrussischer Fremdherrschaft wahrgenommenen Massendeportationen nach der Besetzung des Baltikums durch Stalin 1940 werden vom offiziellen Moskau nach wie vor als „notwendige Präventivmaßnahmen gegen Hitlers Angriffspläne“ gedeutet. Solche oder andere unliebsame geschichtspolitische Auffassungen etwa zu der beispielsweise von dem russischen Wissenschaftlicher Viktor Suworow vertretenen Präventivkriegstheorie zum deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941  könnten schon bald mit harten Strafen bedacht werden. Die Duma diskutiert derzeit einen Gesetzentwurf über „Gegenmaßnahmen gegen Versuche auf dem Territorium ehemaliger Sowjetrepubliken, den Nazismus, nazistische Verbrecher und ihre Helfer zu rehabilitieren“. Dieser sieht Geld- oder Haftstrafen von drei bis fünf Jahren für „falsche Geschichtsinterpretation“ vor, egal ob sie von russischen oder ausländischen Personen stammen.

Wie zu kommunistischer Zeit sollen Andersdenkende also mit dem Staatsanwalt eingeschüchtert werden, sei es aus Mangel an Argumenten oder aus fehlender Sensibilität gegenüber undemokratischen Herrschaftsmethoden. So oder so muß man hoffen, daß sich Präsident Medwedew und Regierungschef Putin besinnen und ihr Land in puncto Geschichtspolitik auf einen freiheitlicheren Kurs zurückführen.                          
Martin Schmidt

Foto: Zurück in die alten Zeiten? Ein russischer Gesetzentwurf sieht harte Strafen für „falsche Geschichtsinterpretationen“, etwa über die Massaker von Katyn, vor. Das Bild zeigt Michael Gorbatschow (r.) 1982 mit sowjetischen Führern.


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