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06.06.09 / Der Gang zur Messe war Pflicht / Eine neue Internetseite informiert erfrischend lebendig über die Lage alter Menschen vor 400 Jahren

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 23-09 vom 06. Juni 2009

Der Gang zur Messe war Pflicht
Eine neue Internetseite informiert erfrischend lebendig über die Lage alter Menschen vor 400 Jahren

Gesundheitsdaten gehören seit jeher zu den besonders sensiblen und daher auch besonders schützenswerten Daten. Nicht nur die seit Jahrhunderten bestehende standesrechtliche Schweigepflicht der Ärzte, deren Verletzung strafrechtlich sanktioniert ist, zeugt davon.

Wie spannend es sein kann, in den Daten fremder Menschen zu stöbern, erfährt man, wenn man die neue Internetseite www.nuernberg-hausbuecher.de aufruft. Dort sind seit kurzem die Daten von über 1300 Männern zu finden. Name, Beruf, Krankheiten, Charaktereigenschaften, Sterbedaten – all das wurde akribisch festgehalten und dazu noch mit einem Bild des Betreffenden illustriert. Zur Beruhigung der Datenschützer: Diese Herrschaften lebten vor mehreren 100 Jahren. Die Nürnberger Hausbücher dokumentierten Leben und Sterben in den Zwölfbrüderhäusern der Mendelschen und Landauerschen Stiftungen.

1388 gründete der Patrizier Konrad Mendel d. Ä. ein Zwölfbrüderhaus, um zwölf armen, alten und kranken, aber nicht bettlägerigen Handwerkern einen gut versorgten Lebensabend zu gewähren. Weitere Voraussetzungen zur Aufnahme waren der Nachweis des Nürnberger Bürgerrechts und die Kenntnis bestimmter Gebete. Die Brüder hatten gemeinsam im Stiftungshaus zu leben, eine einheitliche Tracht zu tragen, an Messen und Gebetsstunden teilzunehmen und für den Gründer, seine Nachfolger, den Rat und die Mitbrüder Fürbitte zu halten. Nach Einführung der Reformation bestand die Stiftung bis zur Aufhebung 1807 weiter. Der im Bergbau tätige Unternehmer Matthäus Landauer stiftete 1510 eine vergleichbare, ebenfalls bis 1807 bestehende Einrichtung; für die gleichzeitig gegründete Allerheiligenkapelle lieferte Albrecht Dürer das Altarbild. In den rund 400 Jahren des Bestehens der beiden Stiftungen ist über die Stiftungsinsassen genau Buch geführt worden: 1425 wurde das Hausbuch der Mendelschen und 1510 das der Landauerschen Zwölfbrüderstiftung angelegt. Heute befindet sich dieser bibliophile Schatz in der Stadtbibliothek Nürnberg, der ältesten städtischen Bibliothek im deutschen Sprachraum. Damit besitzt die Nürnberger Stadtbibliothek die umfangreichste und wertvollste serielle Bildquelle zum historischen Handwerk in Europa.

Vom Bäcker bis zum Zimmermann, vom „Ablader“ bis zum „Zuckermacher“ schildern ihre über 1300 Darstellungen zahlreiche Herstellungsverfahren und Handwerkserzeugnisse vom 15. bis zum 19. Jahrhundert.

Als Forschungsmaterial wie auch als Illustrationsvorlagen sind die Handwerkerdarstellungen der „Zwölfbrüderbücher“ in fach- wie populärwissenschaftlicher Literatur seit langem bekannt und beliebt. Dennoch blieb ihr größter Teil bis heute unveröffentlicht.

Von Oktober 2007 bis Februar 2009 wurden die Hausbücher im Rahmen eines Projekts der Deutschen Forschungsgemeinschaft digitalisiert und erschlossen. Die Stadtbibliothek als Eigentümerin und das Germanische Nationalmuseum als „informationstechnologischer Kompetenzträger“ dokumentieren die Hausbücher nun erstmals komplett und gemäß aktuellen Standards digital.

Auf mehr als 1600 Seiten begegnet man aber auch den längst vergessenen Menschen, alten Männern, die in ihrer Not eine Unterkunft fanden und dort gut betreut wurden. Zwei warme Mahlzeiten am Tag, viermal in der Woche Fleisch und zweimal je ein halber Liter Bier standen ihnen zu, davon konnten viele ihrer Zeitgenossen nur träumen. Nicht alle waren mit ihrem Schicksal zufrieden. Der Bierwirt Wolff Dietz war 62 Jahre alt, als er die Hilfe der Stiftung in Anspruch nahm. Ein Jahr und vier Monate später starb er (um 2.15 Uhr). Er „war ein wildter und unfreundtlicher Mann“, urteilte man über ihn, wünschte ihm aber „Godt begnade ihm“. Der Bierbrauer Linhardt Sigel hingegen scheint sich im Zwölfbrüderhaus wohlgefühlt zu haben, 22 Jahre blieb er dort und wurde 101 Jahre alt. Viel erfährt man auch über die unterschiedlichsten Krankheiten der Insassen. Die Liste reicht vom Alkoholmißbrauch und Asthma über Lepra (fünf Fälle) bis zu Demenz, Rheuma und Zipperlein, womit allerdings Gicht gemeint ist.

Für rund 380 verschiedene Berufe finden sich Nachweise – ein wertvolles Zeugnis für die Vielfalt des Handwerks in Nürnberg und seinen Wandel über die Jahrhunderte. Eine Vorstellung von den verschiedenen Produktionsmethoden liefern 470 verschiedene Arbeitsgeräte oder fast 300 im Bild festgehaltene Erzeugnisse.

Wer sich ein detailliertes Bild vom Handwerk im Mittelalter oder in der frühen Neuzeit machen will, wird in Zukunft an einer Recherche in dieser Datenbank kaum vorbeikommen. Aber auch wer an menschlichen Schicksalen in der Vergangenheit interessiert ist, kommt auf dieser Internetseite auf seine Kosten. Da liest man zum Beispiel von dem Rotschmied Jakob Krafft, der 1628 im Alter von 70 Jahren aufgenommen wurde, das Stiftshaus aber verließ, um zu heiraten. Als er es sich anders überlegte und in das Stift zurückkehren wollte, wurde er nicht mehr aufgenommen und starb bald darauf „mit Hunger“, denn es war laut Satzung nicht gestattet, an ausgeschiedene Brüder weiterhin Almosen zu geben. Andererseits wurden Brüder weiter vom Stift versorgt, wenn sie krank waren und ins Spital mußten. Nicht nur über die Insassen, auch über das Personal wurde Buch geführt. So erfährt man allerlei Wissenswertes über die Köchinnen. Einige hielten es im Armenhaus lange aus, bis zu 28 Jahre wie Anna Mulmer. Sie starb 1582 und wurde 82 Jahre alt. Andere wurden wegen Untreue und Naschsucht entlassen. Die Hausbücher zeichnen ein buntes Bild des Lebens vor 400 Jahren. Eine Fundgrube nicht nur für Historiker.          Silke Osman

Foto: Bierwirt Wolff Dietz: Auch seine persönlichen Daten wurden akribisch festgehalten.


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