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06.06.09 / Tugenden wieder ins rechte Licht gerückt / Der Fernsehjournalist Ulrich Wickert hat Texte über Toleranz, Demut, Güte und Geduld gesammelt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 23-09 vom 06. Juni 2009

Tugenden wieder ins rechte Licht gerückt
Der Fernsehjournalist Ulrich Wickert hat Texte über Toleranz, Demut, Güte und Geduld gesammelt

Das Wort Tugend hat im allgemeinen Seltenheitswert in unserem Alltag. „Werte“ sind dafür die Bresche gesprungen und haben im Sprachgebrauch die Tugenden weitgehend ersetzt – aber nur diejenigen, die noch als zeitgemäß gelten. Dabei erhielt die Beliebigkeit großen Spielraum. In Deutschland ist das Mißtrauen gegenüber Appellen an tugendhaftes Verhalten aus historischen Gründen besonders ausgeprägt. Die „gute alte Tugend“ wird unter anderem deshalb umschifft, weil der Begriff den Anstrich einer vergangenen Epoche hat, in der, als sie bereits im Ausklingen begriffen war, zwei Weltkriege geführt wurden, und in der beispielsweise Tapferkeit und Keuschheit als Tugenden galten. Gerade in dieser Hinsicht gelten gesellschaftlich längst andere Maßstäbe, haben sich die Vorstellungen geändert. Tugend klingt in den Ohren vieler auch streng, und von Maßregelung möchten die Nach-68er-Generationen nichts wissen. Junge Leute meiden den Begriff recht konsequent, manche aber wohl nur, weil schnell als „uncool“ gilt, wer Altbewährtes, vermeintlich Moralinsaures lobend erwähnt. „Preußische Tugenden“? Die Bedeutung dieses Ausdrucks ist nicht mehr allgemein bekannt. Den Nutzen von Fleiß und Pflichtbewußtsein hingegen haben aufstrebende Menschen stets verinnerlicht; doch ob auch im Sinne der „Preußischen Tugenden“, bleibt im Einzelfall zu hinterfragen.

Zu den grundlegenden Werten, die man mit dem Begriff „die Goldene Regel“ umschreibt („Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg’ auch keinem andernzu!“), bekennt sich demgegenüber eine übergroße Mehrheit, und diesen Menschen graut bei der Vorstellung, daß sich das einmal ändern könnte. Die Tugend aber begann in der Ecke der Spruchweisheiten unter einer Staubschicht in Vergessenheit zu geraten ... bis der Fernsehjournalist Ulrich Wickert Mitte der 90er Jahre die Idee hatte, sie mit Hilfe einschlägiger Literatur wieder ins rechte Licht zu rücken. Als er 1995 eine umfangreiche persönliche Auswahl von Texten der Weltliteratur vorlegte, die einen Bezug zu den verschiedenen Tugenden sowie Ethik und Moral aufweisen, hatte  kaum jemand mit dem grandiosen Verkaufserfolg gerechnet, der dieser Sammlung beschieden sein sollte. „Das Buch der Tugenden“ rangierte bald weit oben in den Verkaufslisten. Natürlich war der hohe Absatz teilweise auf die Beliebtheit des damaligen Fernsehmoderators zurückzuführen, andererseits zeigte sich an dem Interesse eine in unserer Gesellschaft weithin bestehende Sehnsucht nach Orientierung und Vorbildern für das eigene Handeln. Wickert wurde wegen dieses Buches aber auch kritisiert. So hieß es, daß seine eigenen Aufsätze zu dem Thema nicht an die ausgewählten Schriften heranreichten. 

Die Sammlung, die nun in einer überarbeiteten und aktualisierten Neuausgabe vom Piper Verlag wieder angeboten wird, ist in der Tat einzigartig und regt vielfach zum Weiterlesen an. Sie umfaßt neben Fließtexten Dialoge, Gedichte und Aphorismen über gutes und richtiges menschliches Verhalten und mitunter auch über das Gegenteil, das dann als abstoßendes Beispiel herausgestellt wird. Über Toleranz, Güte, Barmherzigkeit, Zuverlässigkeit, Güte, Treue, Liebe, Freundschaft, Bescheidenheit, Geduld, Gerechtigkeit, Beharrlichkeit, Demut und Verantwortung für die Natur schrieben Aristoteles, Voltaire, Erich Kästner, Ludwig Christoph Heinrich Hölty, die Brüder Grimm und zahlreiche andere Autoren nebst einigen Schriftstellerinnen, darunter Marie-Louise Kaschnitz und Doris Lessing. In einigen Texten werden Tugend und Moral mit Vernunft und Klugheit in Verbindung gebracht. Warum? Nach Aristoteles und nach Auffassung anderer Philosophen sind es individuelle Eigenschaften des Menschen, die dessen Verhalten auf den Weg zum Guten hinlenken. Diesen Gedanken nimmt Wickert auf: „Doch wie kommt der Mensch in den Besitz dieser Eigenschaften, die doch nicht angeboren sind? Durch Lernen, Erfahren, Wissen – also durch Vernunft“, liest man in seinem Vorwort.

Nicht immer aber leitet bekanntlich Vernunft den Menschen zur Güte – warum nicht? Vor dieser Frage hält Wickert inne. Hier hätte die Theologie ansetzen können, die aber bei dieser Auswahl bewußt nicht berücksichtigt wurde; vermutlich um dem Umstand Rechnung zu tragen, daß heute in erster Linie die Gesellschaft die Richtlinien für das, was als moralisch einwandfreies Verhalten angesehen wird, vorgibt. Doch gerade dort, aber nicht nur dort, wo rechtes und vorbildliches Verhalten über das hinausgeht, was von der Gesellschaft verlangt oder hingenommen wird, stößt man fast unvermeidlich mit der Frage der Letztbegründung moralischer Normen auf die Religion. Diese verheißt ja nicht nur Trost als Lohn für denjenigen, der jenseits gesellschaftlicher Normen tugendhaft handelt, sondern bietet überhaupt erst ein System an Regeln an, das nicht von Zeitgeschmack und Mehrheitsmeinung abhängt. Und so kommt in einigen Literaturbeiträgen des „Buchs der Tugenden“ zwangsläufig die religiöse Dimension hinzu, so im Abschiedsbrief von Matthias Claudius an seinen Sohn. Oscar Wilde verpackte die Botschaft vom himmlischen Lohn, der dem geläuterten Menschen zuteil wird, in sein im angelsächsischen Raum populäres Kunstmärchen „Der selbstsüchtige Riese“.

Dagmar Jestrzemski

Ulrich Wickert: „Das Buch der Tugenden. Große Texte der Menschheit – für uns heute ausgewählt“, Piper Verlag, München 2009, gebunden, 615 Seiten, 24,95 Euro


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