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04.07.09 / Schon in der Schule auf Hartz IV eingestimmt / Spannende Reportagen über Menschen, die ihr Leben nicht in den Griff bekommen (wollen) und auf die Hilfe des Staats bauen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 27-09 vom 04. Juli 2009

Schon in der Schule auf Hartz IV eingestimmt
Spannende Reportagen über Menschen, die ihr Leben nicht in den Griff bekommen (wollen) und auf die Hilfe des Staats bauen

Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit. Und nichts Sensationelleres gibt es in der Welt als die Zeit, in der man lebt!“ Dieses Motto des als „rasender Reporter“ in die Geschichte eingegangenen Egon Erwin Kirsch (1885−1948) haben sich drei jeweils in der zweiten Hälfte der 70er Jahre geborene Reporter als Leitlinie gesetzt. Julia Friedrichs, Eva Müller und Boris Baumholt, die vor allem für den WDR Dokumentationen produzieren, belegen in ihren mehrfach ausgezeichneten Sozialreportagen, daß ein guter Reporter zwar eine Haltung, aber keine Vorurteile haben darf und er über jene Menschen, über die er berichtet, etwas erfahren will und keineswegs das Ziel hat, sie zu bekehren.

Von 2005 bis 2008 haben die drei verschiedene Familien in Deutschland besucht. Diese zählen sich selbst zur Unterschicht. Einige von ihnen seit Generationen, andere hingegen sind aufgrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen von der Mittelschicht in die Unterschicht abgerutscht. Wie diese Menschen leben, welche verschiedenen Beweggründe sie antreiben oder vor allem auch nicht antreiben, das beschreiben die drei Journalisten in ihrem Buch „Deutschland Dritter Klasse − Leben in der Unterschicht“ (Hoffmann und Campe, Hamburg 2009, broschiert, 207 Seiten, 14,95 Euro).

Der Leser erfährt, wie es den Protagonisten in den drei untersuchten Jahren ergeht. Die Entwicklungen, die zu verfolgen sind, lassen Rückschlüsse auf falsche Strukturen in der Gesellschaft zu.

So lernt der Leser beispielsweise die 21jährige Jessica, ihren 28jährigen Lebenspartner René und ihre gemeinsame einjährige Tochter Janina kennen. Die drei fahren gemeinsam mit Jessicas 52jährigen Vater Helmut zum Amt. Alle drei Erwachsenen sind arbeitslos. René hat noch nie gearbeitet, Helmut war Maler, doch er ist fest davon überzeugt, daß ihn keiner mehr will. Die Stellenangebote vom Arbeitsamt ignoriert er, denn schließlich tun ihm morgens beim Aufstehen die Knochen manchmal weh, da könne er nicht mehr arbeiten gehen. Außerdem hat er über zwei Jahrzehnte in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt. Auch René und Jessica sehen kein Problem darin, Geld vom Staat zu bekommen. Wer oder was der Staat ist, darüber haben sich die jungen Webers noch keine Gedanken gemacht. Nur brauchen sie jetzt mehr als die 1129 Euro monatlich, die sie neben Miete und Heizung von ihm erhalten. Leider haben sie nur noch sieben Euro von ihren Hartz-IV-Monatseinkommen übrig, doch der Monat währt noch eine Woche. Nüchtern geben die Reporter die Diskussion zwischen den Webers und dem Behördenmitarbeiter wieder.

Immer wieder wird der Text von Einblockungen unterbrochen, die verschiedene statistische Daten oder Forschungsergebnisse aufführen; sie belegen, daß die Webers nur ein Beispiel unter Millionen ähnlichen Fällen sind.

Wenig später begleitet der Leser Jessicas jüngeren Bruder Pascal zu seiner Förderschule. Der Leser erfährt, daß die wenigsten Kinder vor der Schule frühstücken, und so steht auf dem Stundenplan für die erste Stunde „gemeinsam frühstücken“. Da der Direktor von Pascals Schule überzeugt ist, daß die Kinder der Förderschule sowieso keine andere Perspektive als Hartz IV haben, ist auch der gesamte Lehrplan darauf ausgerichtet. Statt Autofinanzierung wird hier im Matheunterricht durchgerechnet, was man sich von einem Hartz-IV-Regelsatz aus dem neuesten Aldi-Prospekt leisten kann. Wie der Fall von Pascals älterer Schwester Jessica gezeigt hat, ist dies eine wichtige Fähigkeit. Doch Jessica würde selbst nach diesem Unterricht nicht anders handeln, denn sie weigert sich, länger als drei, vier Tage im voraus zu planen.

Derweil fährt Heidemarie Danzer in Berlin Essen aus. 43 Cent pro Menü zahlt ihr der Essensservice. Sie schafft etwa zehn Stück pro Stunde, macht 4,30 Euro Stundenlohn. „1,9 Millionen Menschen in Deutschland erhalten fünf Euro Stundenlohn und weniger“, wird das Institut für Arbeit und Qualifikation zitiert. Wie der Alltag solcher Menschen aussieht, zeigt das Beispiel Danzer. Uwe Kahl verdient zwar mehr, doch der Zeitarbeiter hofft stets vergeblich auf eine Festanstellung.

An der Förderschule von Pascal wehrt sich die Schülerin Andrea gegen die Perspektivlosigkeit. Sie ist überzeugt, daß sie einen Ausbildungsplatz findet, obwohl Lehrer und Vater ihr stets zu verdeutlichen versuchen, daß Absolventen von Förderschulen wie sie keine Zukunft haben. Sie wollen das Mädchen vor Enttäuschungen bewahren.

Der Fall Andrea belegt, wie verheerend diese Schutzmaßnahme ist. Denn wer keine Hoffnung hat, ist antriebslos. Und wo viele Menschen ohne Hoffnung sind, greift die Antriebslosigkeit um sich.

Die Mittelschicht wendet sich empört ab und nimmt damit den Kindern der Unterschicht ihre letzten Vorbilder. Doch Andrea hatte Glück im Unglück, ein Hotelier sah im WDR eine Dokumentation ihres Schicksals und gab ihr einen Ausbildungsplatz. Rebecca Bellano

Foto: Schulspeisung: Manche Eltern geben ihren Kindern kein Essen mit.


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