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18.07.09 / Literatur war seine Heimat / Reich-Ranickis Zeit in Polen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29-09 vom 18 Juli 2009

Literatur war seine Heimat
Reich-Ranickis Zeit in Polen

Marcel Reich-Ranicki (MRR) ist heute der einflußreichste deutsche Literaturkritiker, bekannt geworden vor allem durch das „Literarische Quartett“ im ZDF. Seine Lebenserinnerungen fanden viel Aufmerksamkeit, verschwiegen aber auch elegant manches aus seiner frühen Biographie. Gerhard Gnauck, Korrespondent der „Welt“ in Warschau, Historiker und Slawist, hat diesen „polnischen Jahren“ nun eine intensiv recherchierte Biographie gewidmet. Sie beginnt mit Reich-Ranickis Kindheit (geboren 1920) in Leslau an der Weichsel (Wloclawek). Aus dem wirtschaftlich beengten jüdischen Elternhaus findet er Zuflucht bei Tante und Onkel in Berlin am Ende der Weimarer Republik. Hier macht er auch noch 1938 das Abitur, um bald darauf vom NS-Staat nach Polen abgeschoben zu werden. Er erlebt hier den deutschen Einmarsch, wird wie Hunderttausende Juden durch die deutsche Besatzungsmacht ins Ghetto gepfercht, wo er als Dolmetscher des Judenrats zu überleben versucht. Hier heiratet er auch die Schick-salsgefährtin Teofila, mit der ihm die Flucht gelingt, während die Eltern in Treblinka ermordet werden. Das junge Paar überlebt im Untergrund. Reich wird 1946 an die polnische Militärmission in Berlin versetzt, offiziell als Leutnant, tatsächlich als Mitglied des Geheimdienstes. Als solches arbeitet er 1947/49 auch am polnischen Generalkonsulat in London, offiziell als Vize- und dann als kommissarischer Generalkonsul, wo er Berichte nach Warschau über Treffen mit Landsleuten aus der polnischen Emigration schreibt. Im Zuge der stalinistischen Säuberungen vom „Kosmopolitismus“ wird er abberufen und aus der KP ausgeschlossen. Obwohl er sich mehrfach um Wiederaufnahme bemüht, wächst die ideologische Entfremdung zu „Volkspolen“, wo er in den folgenden Jahren als „freier Schriftsteller“ und Literaturkritiker arbeitet. 1958 wählt er die Flucht nach Westdeutschland, wo er zunächst in der „Gruppe 47“ sowie bei Heinrich Böll und Günter Grass Rückhalt findet. Seine eigentliche Heimat war und blieb jedoch die deutsche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.

Die Frage des Autors dieser Biographie, wer denn nun MRR war und ist, ist zu beantworten: Es ist das Leben eines Menschen, eines Juden, das mitten durch die Abgründe dieses Jahrhunderts, des „Totalitären Zeitalters“, führte und dessen beide Hauptströme er in ihrer Existenzbedrohung kennenlernte, das Leben eines Mannes, der sich darin nicht immer mit den Maßstäben einer „gutbürgerlichen“ Existenz, mit Tarnung und Verstellung, zu behaupten wußte. In seiner Zeit in Westdeutschland hat er viel dazu beigetragen, daß die Deutschen ihre nähere und fernere Literatur verstehen und schätzen lernten. Da es dabei nicht immer um Gerechtigkeit sine ira et studio ging, mußte das Leben von MRR notwendig zwischen „der Parteien Gunst und Haß“ geraten.          Klaus Hornung

Gerhard Gnauck: „Wolke und Weide – Marcel Reich-Ranickis polnische Jahre“, Klett-Cotta, Stuttgart 2009, geb., 287 Seiten, 24,80 Euro


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