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25.07.09 / Russischer Albert Schweitzer? / Vergangenheitsbewältigung findet in Russland nicht statt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 30-09 vom 25. Juli 2009

Russischer Albert Schweitzer?
Vergangenheitsbewältigung findet in Russland nicht statt

Putins Bemühungen, über die tiefe, allseitige Krise in Russlands Wirtschaft und Politik mit der Beschwörung historischer „Siege“ hinwegzutäuschen, wächst sich zur neostalinistischen Mohrenwäsche aus. Da werden sinistre Figuren zu makellosen Lichtgestalten stilisiert, wobei man offenkundig auf den Gedächtnisverlust der nichtrussischen Welt zählt, die diese „Heroen“ noch als aktenkundige Untäter kennt.

Beispielsweise Jewgeni Tschasow, dessen 80. Geburtstag die Kreml-nahe Presse zu Sommerbeginn nutzt, um ihn als russischen Albert Schweitzer vorzustellen: Arzt, Lebensretter, Friedensnobelpreisträger und vieles mehr. Dabei vergisst man, dass in Deutschland genügend Politiker und Schriftsteller leben – etwa Heiner Geißler und Günter Grass −, die Tschasow noch als KGB-Mann und obersten Hetzer gegen den  Dissidenten Andrej Sacharow kennen. 

War Tschasow überhaupt Arzt? Er hat 1953 in Kiew ein Medizinstudium beendet, danach aber in verblüffendem Tempo und Erfolg die Karriere eines kommunistischen Gesundheitsfunktionärs absolviert – beginnend in Moskau unter der Stabführung von Stalins Leibarzt Winogradow. Bereits 1967 wurde er Chef der berüchtigten „Kremljowka“, der 4. Hauptabteilung des Gesundheitsministeriums, die nur für die Betreuung von Spitzenpolitikern und -militärs der Sowjetunion und der „Bruderländer“ zuständig war. Bei den derzeitigen Geburtstagsfeiern erzählte Tschasow, wie das so war mit der Sowjetmedizin: Erst als Ministerpräsident Kossygin eine Gehirnblutung erlitt, durfte Tschasow 1980 im Westen für 120000 Dollar zwei Computertomographen kaufen – zum alleinigen Gebrauch der Kremlspitze.

Tschasow, bis heute mit dem Stern eines „Helden der Sowjetunion“ am Revers, ist ein Zyniker geblieben. Gerede um seine 4. Hauptabteilung tut er als westliches Geheimdienstgeschwätz ab, er und sein Team seien nur fleißiger und umsichtiger als andere gewesen. Als ob es bei Russen nicht schlechteste Erfahrung mit sowjetischer Klassenmedizin gäbe: Luxuskliniken für Bosse, schmutzige Primitivhospitäler für die Massen.

Heute wie damals sieht sich Tschasow als Opfer westlicher Ränke. 1985 war er, Leibarzt dreier KPdSU-Generalsekretäre, Chef der „Internationalen Ärzte-Vereinigung für die Verhütung des Atomkriegs“ und wurde als „ideologisch total fixierter“ Diversant vom KGB in diese Rolle gehievt. Er sollte der Vereinigung beibringen, dass nur westliche Atomwaffen von Übel seien, nicht aber sowjetische.

Vor dieser sowjetischen Politik hatte Andrej Sacharow den Westen bereits in den 1960er Jahren gewarnt: Gegen Atomwaffen helfe nur ein Teststopp, und der Westen solle sich keine Entspannung zu Moskaus Bedingungen aufzwingen lassen.

Darauf mußten Tschasow und 24 „Kollegen“ eine Erklärung signieren: „Wir sowjetischen Mediziner fühlen uns beleidigt durch das Verhalten des Akademiemitglieds Sacharow, er bringt unser gesellschaftliches System in Verruf, arbeitet für aggressivste imperialistische Kreise und richtet sich gegen die Friedenspolitik der Sowjetunion.“

Damit hatte Tschasow Erfolg: Die Anti-Atomärzte bekamen 1985 den Friedensnobelpreis – Kotau für den 1975 an Sacharow verliehenen Preis –, was Heiner Geißler eine „Schande“ nannte. Daraufhin machte Tschasow Karriere in Partei und Oberstem Sowjet.

Über Sacharow brachte er frechste Lügen in Umlauf: Als alle Welt längst wusste, wie massiv der KGB ihn in Gorki (Nishny Nowgorod) bedrängte, erzählte Tschasow, Sacharow verbrächte dort ein ruhiges Urlaubsleben und habe ein Dollarvermögen, von dem andere nicht zu träumen wagten.

Heute ist Tschasow 80 Jahre alt und verbreitet tumbe Ratschläge für ein langes Leben: Optimistisch solle man sein, stressfrei und nervenstark leben. Das hätte er vor 25 Jahren Sacharow sagen sollen, als dieser 24 Stunden am Tag dem kleineren oder größeren Terror des KGB ausgesetzt war.         Wolf Oschlies


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