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08.08.09 / Freiheit statt Gleichheit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 32-09 vom 8. August 2009

Gastbeitrag
Freiheit statt Gleichheit
von Josef Kraus

Zentrale Begriffe einer jeden Debatte um Gesellschaft und Staat sind Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Diese drei sind allerdings nicht zugleich zu haben. Die Menschen müssen sich also entscheiden, welches der drei Prinzipien Vorrang haben soll. Immer häufiger entscheidet man sich für das moralisch – vermeintlich – höchstrangige Gut: die Gerechtigkeit. Man räumt dabei aber nicht ein, dass man mit Gerechtigkeit oft Gleichheit, ja Gleichmacherei meint. Ein Klassiker der Meinungsforschung sind hier die seit 1972 vom Institut für Demoskopie in Allensbach erhobenen Studien zum Verhältnis der Deutschen zu Freiheit und Gleichheit. Im Jahre 1990 hatte das Institut herausgefunden, dass die Mehrheit der Deutschen die Freiheit höher einschätzt als die Gleichheit. Interessanterweise galt das damals für die Ostdeutschen noch mehr als für die Westdeutschen. 1990 konnte man sagen: Die Freiheit wird von denen am meisten geschätzt, denen sie versagt war. 2004 wurde die Studie wiederholt. Das Ergebnis war niederschmetternd: Gerade die Mehrheit der Ostdeutschen findet Gleichheit wichtiger als Freiheit.

Hinter diesem landläufigen Missverständnis eines Vorrangs der Gleichheit vor der Freiheit steckt eine Idee, die für nahezu alle politischen Utopien konstitutiv ist. Schon Plato verlangte die Beseitigung des persönlichen Eigentums und der Familie, denn das Erbrecht sei es, das Reiche und Arme, Gebildete und Unwissende, ja damit Gute und Böse schaffe.

Der neuzeitliche Prophet der Gleichheit ist Jean-Jaques Rousseau (1712–1778). Wie nach ihm Karl Marx (1818–1883) sowie der gesamte Sozialismus und Kommunismus betrachtete Rousseau das Privateigentum (das „Kapital“) als Ursache der Ungleichheit der Menschen und damit als Ursache allen Übels. Die Protagonisten der Französischen Revolution schlossen sich Rousseaus Vorstellungen gerne an. Robespierre wollte die „heilige“ Gleichheit errichten. Rousseau selbst blieb weit über seine Lebzeiten hinaus einer der Urväter des Kollektivismus, ja, er wurde zum „Vorläufer des modernen Totalitarismus“ (Hans Maier, 1977). Rousseau bleibt damit Ideengeber für die, die nicht nur ein Wort wie „Besserverdienende“, sondern auch wie „Begabung“ zur Missgunst-Vokabel gemacht haben.

Edmund Burke (1729–1777) widersprach Rousseau entschieden. In seinen „Reflections on the Revolution in France“ (1790) schreibt Burke, Freiheit schließe totale Gleichheit der Menschen aus. Burke fordert Gleichheit in Freiheit, als Gleichheit vor dem Gesetz, nicht als Gleichmacherei. Wenig später befasste sich Alexis de Tocqueville (1805–1859) mit den Gefährdungen der Freiheit. Freiheit versickere in Gleichheit, schreibt er in seinem Buch „Die Demokratie in Amerika“ (1835). Und: Freiheit erliege der Gleichheit, weil Freiheit mit Opfern erkauft werden müsse und weil Gleichheit ihre Genüsse von selbst darbiete, Freiheit dagegen Anstrengung verlange. Tocqueville machte dabei auf die wohl größte Gefahr der Gleichheit aufmerksam: Der Mensch verliere in ihr die Fähigkeit zum selbständigen Denken, Fühlen und Handeln. Am Ende sei den Menschen die Gleichheit in Knechtschaft lieber als die Ungleichheit in der Freiheit. 1848 fügt Tocqueville hinzu: „Demokratie erkennt jedem einzelnen seinen Eigenwert zu, Sozialismus degradiert jeden einzelnen zu einem Funktionär der Gesellschaft, zu einer bloßen Nummer.“

In jeweiliger Reinform schließen sich Freiheit und Gleichheit jedenfalls aus. Wenn Menschen frei sind, dann können sie nicht gleich sein, und wenn Menschen gleich sind, dann können sie nicht frei sein. „Gesetzgeber oder Revolutionäre, die Gleichheit und Freiheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Scharlatane“ (Goethe). In der Wirklichkeit stellt sich solche Phantasterei so dar, wie es Churchill in seinem Bonmot beschrieb: „Das Problem des Kapitalismus ist, dass er das Glück ungleich verteilt, das Problem des Sozialismus ist, dass er das Unglück gleich verteilt.“ Übertragen etwa auf Bildung heißt das: Ein begabungs- und leistungsorientiertes Bildungswesen führt zu individuell unterschiedlichen Abschlüssen, ein Einheitsschulsystem verteilt Unbildung und im besten Fall Halbbildung gleich.

Ungleichheiten können und dürfen sich nicht verschleifen. Sonst wird daraus ein „Konvent von ungefähr gleich Unwissenden“ (Peter Sloterdijk, „Die Verachtung der Massen“, 2000). Die „conditio humana“ kennt aber keine Gleichheit. Deshalb ist es falsch, wenn so manche gesellschaftspolitische Diskutanten Gleichheit im Zuge einer vermeintlich in der Bevölkerung ankommenden Wohlfühlpolitik für Gerechtigkeit halten. Absolute Gerechtigkeit aber gibt es jedenfalls nicht. (Irdische) Gerechtigkeit kann es nur annäherungsweise in Form einzelner Gerechtigkeiten (Plural!) geben, zum Beispiel als Lohngerechtigkeit, Rentengerechtigkeit, Steuergerechtigkeit, Wehr- und Dienstgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit in Bildung und Ausbildung, Gerechtigkeit in der Rechtsprechung und im Strafrecht und so weiter. Anders ausgedrückt: Die Macht des Staates, Gerechtigkeit herzustellen, ist begrenzt. 

Das Grundgesetz hat Vorkehrung getroffen für einen Ausgleich von Ungleichheiten, nicht nur in Artikel 3 Absatz 1 („Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“), sondern auch manche der nachfolgenden Grundgesetz-Artikel zielen auf nichts anderes ab als auf den Ausgleich von Ungleichheiten: siehe Gleichberechtigung von Mann und Frau; Verbot der Diskriminierung aufgrund von Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat, Herkunft, Glauben, religiöser oder politischer Anschauung; freier Zugang zu Meinungsbildung und Meinungsäußerung; gleiches Wahlrecht.

Im übrigen sei nicht übersehen, dass auch die Reihung des Grundgesetzes mit seinen Artikeln 2 und 3 etwas aussagt: erst die Freiheit, dann die Gleichheit vor dem Gesetz. Diese Reihung ist keineswegs ein Zufall. Außerdem impliziert die Gleichheit vor dem Gesetz, dass es außerhalb dieses Maßstabes unendlich viele Ungleichheiten geben darf.

Es gibt gleichwohl eine Möglichkeit der Versöhnung zwischen Freiheit und Gleichheit. Es sind dies Brüderlichkeit, Bürgerlichkeit und Bildung. Mit Nächstenliebe beziehungsweise (neudeutsch!) Solidarität können unverschuldete Unterschiede abgepolstert werden. Das ist die Idee der Katholischen Soziallehre, in concreto der Sozialen Marktwirtschaft und des Sozialstaatsgebotes des Grundgesetzes.

Brüderlichkeit wiederum setzt Bereitschaft und Freiheit zur Bindung voraus. Bindungslosigkeit, Beliebigkeit, ein „anything goes“ und eine Gleich-Gültigkeit aller Bezüge aber höhlen die Fundamente aus, auf die gerade eine freiheitliche Gesellschaft angewiesen ist. In seinem Buch „Kultur der Freiheit“ (2005) hat der Verfassungsrichter Udo di Fabio dies eindrucksvoll erläutert: „Wer Freiheit will, muss auch die tragende Kultur wollen und darf nicht ungehindert unter Berufung auf Freiheit eine kulturelle Ordnung zerstören, die Freiheit erst möglich macht.“ Man könnte das „Bürgerlichkeit“ nennen. 

Bürgerlichkeit heißt zudem Leistungsethik, heißt Bildung und Selbstbildung. Bildung und Selbstbildung machen frei – nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich – frei von äußeren Umständen, frei von der öffentlichen Meinung, frei von inneren Zwängen. Es ist die große Errungenschaft von Bildung, dass sie Abermillionen Menschen Emanzipation und diese inneren Freiheiten eröffnet hat.

 

Josef Kraus (geb. 1949) ist Oberstudiendirektor an einem bayerischen Gymnasium und seit 1987 ehrenamtlich Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Ende August erscheint sein neues Buch „Ist die Bildung noch zu retten? – Eine Streitschrift“, Herbig, München, 16,95 Euro.


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