19.04.2024

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12.09.09 / Die ostpreußische Familie / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 37-09 vom 12. September 2009

Die ostpreußische Familie
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Lewe Landslied,

liebe Familienfreunde,

kürzlich wurde mir ein schmales Büchlein in die Hand gedrückt mit der Bemerkung „Das hast du doch geschrieben!“ Ich wollte schon den Kopf schütteln, denn der Titel „Zum Feierabend“ kam mir doch sehr unbekannt vor, da fiel mein Blick auf die Unterzeile „Lache on Griene en eenem Sack“, und es dämmerte mir: Ja, natürlich hatte ich damals mit Hanna Wangerin zusammen diesen Vorläufer der Schulungshefte der Landsmannschaft Ostpreußen im Auftrag des Kulturellen Veranstaltungsdienstes zusammengestellt, denn es begannen sich überall die vertriebenen Landsleute zusammenzufinden, und sie wollten ihrer Heimatliebe Ausdruck geben mit den Worten der ostpreußischen Dichter und Schriftsteller. So boten wir ihnen mit diesem ersten Band der Schriftenreihe der LO, den der junge Zeichner Hans-Jürgen Press graphisch gestaltete, „besinnliche und meist heitere Gedichte und Erzählungen bekannter und neuer ostpreußischer Autoren“. Und das trotz des schmalen Umfanges in reicher Fülle: von Agnes Miegel bis Walter Scheffler, von Hansgeorg Buchholtz bis Toni Schawaller, von Frieda Jung über Charlotte Kayser und Fritz Kudnig bis zu Edith Schröder, die zu den „neuen Autoren“ gehörte, denen erst Flucht und Heimatlosigkeit die dichterische Sprache gegeben hatten. Ich hatte einen „Vorspruch für einen Ostpreußenabend“ geschrieben, denn der Inhalt dieses Büchleins sollte ja damals vor allem der Gestaltung von Heimatabenden dienen. Er begann mit den Worten: „Wir wollen heute in die Heimat gehen …“

Damals: Das war im Jahr 1950! Aber diese Zeile könnte auch heute jede Veranstaltung einleiten, die gerade jetzt zum „Tag der Heimat“ stattfindet. Überall, wo sich die Vertriebenen zusammenfinden, steht das Wort „Heimat“ als großes Dach über allem Denken und Handeln. Obgleich inzwischen fast 60 Jahre verstrichen sind, obgleich wir nicht mehr wie in dem Büchlein die Nichtostpreußen als „liebe Leser aus dem Gastland“ anreden, sondern in ihren Regionen sesshaft wurden, bleibt die Heimat das Land, in dem unsere Wurzeln noch immer stecken. Nach dem wir immer Heimweh haben werden, das damals wie eine offene Wunde brannte. Das nicht nur in den bleibenden Werken der Dichter zum Ausdruck kommt, sondern auch in den Niederschriften vieler Vertriebenen, die heute nach deren Tod in Briefen und Tagebuchaufzeichnungen entdeckt werden. So wie die von einer Ostpreußin, die vor einigen Jahren in Karlsruhe verstarb und in deren Nachlass ihre Partnerin eine Aufzeichnung fand, die mit „Heimweh“ betitelt ist. Und die uns wert erscheint, sie hier als einen Beitrag unserer Ostpreußischen Familie zum „Tag der Heimat“ zu bringen. Denn diese Niederschrift wird nicht nur die älteren Leserinnen und Leserinnen berühren, weil sie damals die gleichen Empfindungen hatten, sie soll auch den Jüngeren aufzeichnen, wie gerade die älteren Kinder unter der Heimatlosigkeit gelitten haben. Denn Christel Schulz aus Gumbinnen war im Juni 1946 erst 15 Jahre alt, ihre Aufzeichnung „Heimweh“ wird damit zu einem unbestechlichen Zeitdokument.

Christel beginnt mit einem Gang durch die winterlichen Straßen der westdeutschen Stadt, in der sie nach der Flucht eine Bleibe gefunden hat: „Eis, Schnee, Kälte. Die Natur ist in einen tiefen Winterschlaf gefallen – die Menschen auch. Man lebt … wofür? Wenn man dann, von einer unsichtbaren Macht getrieben, durch die Straßen wandert, immer weiter, weiter, fast ohne zu wissen, wohin – dann wird man eben auch unfreundlich. Man will sein Inneres, das schmerzt, wund ist, der Umwelt nicht zeigen, und wird dann so menschenscheu, feindlich, verschlossen gegen alles. Und Wünsche? Die äußert man kaum. Es ist eben alles tot. Ja, sicher, man hofft auf etwas Erlösendes …“ Und das kommt dann mit dem Frühling, mit der erwachenden Natur.

„Ja, und dann erwacht auch das Herz zu neuem Leben und Fühlen, Was fühlt man? Die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat – das Heimweh! Ja, das Heimweh steigt hoch. Quälend, drückend wird es, kaum erträglich. Mit jedem hoffnungsvollen neuen Frühlingstag wird es größer, genau wie jede Knospe, jedes Blatt größer wird. Bis jetzt war es tot – nein, nicht tot, es hat nur geschlafen, gekeimt, tief im Herzen der Heimatlosen. Jetzt ist es erwacht. Die warmen Sonnenstrahlen sind hinein gedrungen bis in den tiefsten Winkel des Herzens, wo das Heimweh keimte, nur ganz leise angehaucht zu werden brauchte. Haben es angerufen durch den frischen Duft, durch das Gezwitscher der Vögel, die jetzt wieder heimgekehrt sind. Nun ist es da, mächtig groß geworden in den ersten Frühlingstagen, lässt kaum andere Gedanken aufkommen.

Ich muss an das Gedicht von Agnes ,Heimweh‘ denken: ,Ich hörte heute Morgen am Klippenhang die Stare schon, sie sangen wie daheim, und doch war es ein anderer Ton …‘ Als ich diese Verse zu Hause zum ersten Mal las, fand ich es sehr schön, aber verstanden habe ich sie wohl kaum. Heute? Heute weiß ich, was Agnes Miegel mit diesen einfachen Worten meint, was sie gefühlt hat, als sie dieses Gedicht schrieb. Denn heute fühle und denke ich genau so, nur, dass sie es so wunderbar ausgedrückt hat in diesen schlichten Worten – das große, tiefe Heimweh! ,In meiner Heimat Feldern liegt in den Furchen noch der Schnee …‘ Die ganze große Sehnsucht nach der fernen Heimat klingt darin. Vielleicht ist meine Heimat gar nicht so schön wie es hier ist? Ich weiß nur, dass ich sie unendlich liebe, dass ich sie am schönsten finde von allen Teilen, allen Winkeln, die ich jemals gesehen habe. Die Heimat! ,Hier ruh’n die starken Wurzeln deiner Kraft‘, sagt Schiller. Ja, hier haben unsere Ahnen gelebt, hier haben sie gearbeitet, gesorgt, ihre Freunde gehabt und hier sind ihre Gräber … Mag die Fremde noch so schön sein, mag sie einem alle Freuden des Lebens bieten – es ist nicht die Heimat, nicht die Heimaterde, in der jeder fest verankert ist, von der niemand los kann!

An einem schönen sonnigen Tag wandere ich durch die Vorstadt, durch Gärten und Wiesen. Ein lauer Wind weht über die junge Saat und lässt sie wie rollende Wogen erscheinen. Vögel steigen hoch und immer höher, schwingen ihre Flügel frei, immer kleiner werden sie, dann sind sie verschwunden. Wohin fliegen sie? Nach unserer Heimat? Ihnen kann niemand etwas befehlen, sie sind frei, ohne Fesseln. Wehmut steigt in mir hoch, und meine Gedanken fliegen mit, einen weiten, weiten Weg – ich lausche in die Weite hinaus:

Eine breite Straße taucht erst verschwommen, dann immer deutlicher vor mir auf. Uralte Kastanien stehen zu beiden Seiten. Große, alte, mir so vertraute Häuser schimmern durch das Laub der Bäume, und dort steht unser Haus. Mit den großen Schaufenstern hebt es sich von den andern ab. Langsam wandere ich weiter und stehe plötzlich in einem großen Raum – unserem Esszimmer. Meine Mutter sitzt in der Ofenecke in einem schweren Sessel. Dann sitze ich auch schon vor dem Flügel und lasse meine Hände über die schwarzen und weißen Tasten gleiten. Meine Mutter nickt mir freundlich zu.

Plötzlich springe ich auf und laufe durch die Werkstatt, in der die Maschinen laut kreischen und die Arbeiter emsig hobeln und hämmern, dann über den Holzplatz und stehe nun im Garten. Zwischen den mit prächtigen weißen Blüten geschmückten Bäumen schimmert die grünweiße Laube. Kletterrosen haben sich bis auf das Dach empor gerankt. Ein Busch mit schneeweißem Flieder steht an der rechten Seite. Schnell habe ich einen großen Strauß zusammengebunden. Und dort: Fröhlich springe ich zu meinem Beet hinüber. Mein im vorigen Jahr gepflanztes Mandelröschen hat auch schon eine kleine Blüte – wie niedlich sie ist! Das muss Mutti sofort wissen. Da kommt sie gerade den Kiesweg herunter mit einem Korb am Arm. Die Hühner, weiße und bunte, kommen gackernd angelaufen, allen voran der schneeweiße Hahn mit lauten Kikeriki, um die letzten säumigen Hennen anzulocken, als Mutti einige Körner verstreut. Dann gehen wir gemeinsam zu den Kaninchen. Meine beiden Lieblinge, ein schwarzes und ein weißes, schmiegen sich mit ihren weichen Fellchen an mich. Oh ja, ich weiß, ihr wollt euer Fläschchen haben. Ihre Mutter ist nämlich verstorben …

Ja; und dann blicke ich verwundert auf. Wo war ich denn wieder einmal? Zu Hause! Ach, könnte ich doch dort sein. Langsam wandere ich zurück. Am Himmel, der schon ganz dunkel ist, blinken Sterne auf. Der Mond strahlt über mir wie eine glänzende Sichel. Genau so wie in der Heimat. Derselbe Himmel, dieselben Sterne und der Mond leuchten auch über mein Vaterhaus. Von fern kommt eine Melodie, irgendwoher erklingt: ,Heimat, deine Sterne, sie strahlen mir auch an fernem Ort.‘ Ja, ihr Sterne kennt meine Heimat! Langsam laufen Tränen über meine Wangen, immer mehr quellen hervor und tropfen zur Erde.

Heimatland, noch einmal dich wieder sehen! Noch einmal dem Rauschen deiner uralten, dunklen Wälder lauschen. Leise verklingt die Melodie: ,… in der Ferne träum’ ich vom Heimatland.‘ Sollen wir es wirklich nie wieder sehen, unser geliebtes Ostpreußen, nie wieder die kristallklaren, blauen Seen erblicken? Nie wieder durch die unendlich scheinenden Kornfelder und Wiesen wandern? Ist uns die Heimat wirklich für immer verloren? Nein, das darf nicht sein. Man muss auf die Heimkehr hoffen. Auch wenn es jetzt, wo Deutschland, unser Vaterland, besiegt ist und niedergedrückt wird, schwer fällt, an ein neues Erwachen, Emporkommen zu glauben. Man muss hoffen, und sich durch nichts abbringen lassen. Und wenn ich in trostlosen Stunden noch einmal zu zweifeln beginne, dann steht plötzlich der Spruch Fichtes vor Augen, den sich jeder Deutsche tief und für immer einprägen sollte: ,Du sollst an Deutschlands Zukunft glauben, an deines Volkes Aufersteh’n. Lass diesen Glauben dir nicht rauben trotz allem, allem, was gescheh’n …‘ Und Ostpreußen ist ja Deutschland!

Dann ist man wieder getröstet, neue aufgerichtet und gestärkt im Glauben an Deutschland, an das Vaterland, an die Heimat!“

So schrieb sich Christel Schulz damals im Sommer 1946 ihr Heimweh und ihre Hoffnung von der Seele. Ein junges Mädchen, das – durch die Flucht herausgerissen aus der Geborgenheit, die Heim und Heimat boten – schneller und schmerzlicher ihre Kindheit verlor als gedacht. Das beweisen diese so bewegenden Zeilen der 15-Jährigen, die sie bis zu ihrem Tod im Jahr 2007 in Karlsruhe aufbewahrt hat. Ihre Partnerin, Frau Dipl. Ing. Sabine Wagner, fand diese Aufzeichnungen im Nachlass von Frau Christel Heller geborene Schulz, und erkannte sofort ihren dokumentarischen Wert. Da sie in einem schlechten Zustand waren, gab sie den Text in den Computer ein und übersandte uns eine Diskette. Frau Wagner schrieb dazu: „Christel hat bis zu ihrem Tod im Jahre 2007 an Heimweh gelitten. Die Flucht war ein Trauma, das sie nie verwand. Der Aufsatz ist ein verständliches und ergreifendes Zeugnis dafür, was damals in den Flüchtlingen und Vertriebenen vor sich ging. ,Heimweh‘ ist ein Erbe, das allen Ostpreußen gehören sollte“!

Wir danken Frau Sabine Wagner sehr dafür!

Eure Ruth Geede

Foto: Gumbinnen: Heimatstadt von Christel Schulz.           Bild: privat


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