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12.09.09 / Sie verbannte das Korsett / Madeleine Vionnet hat die Silhouette der Frau und die Ästhetik ihrer Kleidung wesentlich verändert

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 37-09 vom 12. September 2009

Sie verbannte das Korsett
Madeleine Vionnet hat die Silhouette der Frau und die Ästhetik ihrer Kleidung wesentlich verändert

Madeleine Vionnet war eine der größten Persönlichkeiten der Haute Couture zwischen den beiden Weltkriegen. Nun ist ihr in Paris eine Ausstellung gewidmet.

Noch heute kennt man den Namen ihrer Konkurrentin, weiß deren Kreationen zu schätzen. Die Modeschöpferin Coco Chanel (1883–1971) ist eine Weltikone. Kein Wunder, dass ein Film, der ihr Leben schildert, bei Modefans Begeisterung auslöst. Das Leben dieser kleinen und ehrgeizigen Französin war ein Drama, maßgeschneidert für Legenden. Eine Legende, die heute noch kolportiert wird, war, dass sie die Frauen vom Korsett befreite. Eine Ausstellung im Pariser Arts Décoratifs unweit der Tuilerien stellt dieses Gerücht richtig. In der ersten Retrospektive des Werks der Modeschöpferin Madeleine Vionnet (1876–1975) erfährt der Besucher, dass sie es war, die bewegungsfreundliche Kleider entwarf und ohne Korsett auskam. Gezeigt werden Kleider aus den Jahren 1912 bis 1939. 130 Exponate sind in einer gewagten Ausstellungsarchitektur aus schwarzem Lack, Glas und Licht plaziert. Spiegel machen es möglich, die Kleider aus kostbaren Materialien von allen Himmelsrichtungen aus zu bestaunen.

Noch vor der Italienerin Elsa Schiaparelli (1890–1973) und Coco Chanel veränderte sie sowohl das Frauenbild in der Mode wie im Leben. Sie stammte aus einfachen Verhältnissen, war aber ehrgeizig und willensstark. Nach einer Ausbildung zur Näherin und einer kurzen unglück-lichen Ehe ging Vionnet nach England, nachdem sie zuvor die Sprache gelernt hatte. Bei Kate Reilly lernte sie aristokratische Damen einzukleiden. Fünf Jahre lange leitete sie eine Schneiderei in England, bis sie 1900 nach Paris zurückkehrte. Sie arbeitete dort zunächst für damals angesehene Modemacher wie die Schwestern Callot und Jaques Doucet. 1912 eröffnet sie ihre erste Boutique in der Rue de Rivoli, um sie zwei Jahre später auf Grund der politischen Lage wieder zu schließen.

1922/23 wagt sie einen Neubeginn, jetzt direkt im Pariser Modeviertel auf der Avenue Montaigne in der Hausnummer 50. Und es geht bergauf. In den 1930er Jahren beschäftigt Vionnet 1200 Arbeiterinnen in der Schnittabteilung, mit der Pelzfertigung und sogar einem eigenen Raum, um Accessoires wie Schleifen oder Stoffrosen zu bügeln. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges musste sie ihre Werkstatt jedoch schließen und zog sich in ihr Bauernhaus in Cély zurück. Gelegentlich gab sie Unterricht und zeigte dem Nachwuchs, was ihren besonderen Stil ausmachte, einen Stil, den vor allem reiche und berühmte Kundinnen wie die Herzogin von Windsor schätzten. Sie waren von ihren Drapierungen und Mustern fasziniert. Ihre Kollektionen enthielten stets mehrere Modelle in schwarz und weiß. Schon zu Beginn ihrer Karriere, am Anfang des 20. Jahrhunderts, verzichtete sie bei ihren Entwürfen auf das Korsett. So entwickelte sie während ihrer Zeit bei Jacques Doucet (1907–1912) hauchzarte Gewänder ohne Korsett – die Verkäuferinnen allerdings boykottierten diese „wäschigen“ Entwürfe.

„Mein ganzes Leben lang habe ich versucht, eine Art Arzt der Silhouette zu sein“, hat Madeleine Vionnet einmal gesagt, „und als Arzt wollte ich erreichen, dass meine Kundinnen den eigenen Körper respektieren, sich sportlich betätigen und eine strikte Körperpflege betreiben, damit er für immer von seiner ihn verformenden Rüstung befreit bleibe.“ Ihre herausragende Leistung aber bestand aus ihrem neuartigen Umgang mit dem Stoff: Die Kleider wirkten, als hätten sie ein Eigenleben, sie umflossen den Körper ihrer Trägerin und vollzogen dessen Bewegungen nach. Möglich wurde das durch den so genannten Diagonalschnitt, bei dem der Stoff, statt dem Fadenlauf folgend zugeschnitten zu werden, schräg verlaufend verarbeitet wird und der noch heute eine der wichtigsten Techniken der Haute Couture ist.

Es war ein Zufall, dass sie auf diese Art des Zuschnitts kam. Als sie eines Tages Stoff um ihre legendäre Holzpuppe drapierte, merkte sie, dass er besser fällt, wenn er diagonal gelegt wird. Diese Holzpuppe ist übrigens auch in der Pariser Ausstellung zu sehen. Sie steht in einem raumhohen Glaskubus auf einem schwarzlackierten Podest mit weißleuchtendem Milchglasboden. Eine Reliquie aus alter Zeit.

Vionnet verblüffte durch ihre Fähigkeit, Kleider zu entwerfen, ohne eine Skizze oder ein lebendes Modell zu nutzen, sondern eine etwa 80 Zentimeter große, bewegliche Holzpuppe. „Die Idee eines Kleides ist für mich eine mentale Sache“, sagte sie einmal. „Ich empfange diese Idee und trage sie im Geist aus, ich suche sie so lang, bis sie mir endlich in die Hand kommt.“

Madeleine Vionnet war nicht nur eine begnadete Schneiderin und Modeschöpferin, sie war auch eine Frau, die sozial dachte, eine „grande patronne“. Den Näherinnen soll das Haus wie das berühmte Hotel Ritz vorgekommen sein. Helle große Ateliers, ein eigenes Restaurant, eine Krankenstation, eine Arztpraxis (mit kostenloser Behandlungsmöglichkeit) und eine Kinderkrippe wurde ihnen geboten. Dazu gab es noch bezahlten Urlaub (keine Selbstverständlichkeit zu dieser Zeit).

Die Marke Vionnet wurde 2002 von einem Geschäftsmann aus Kuwait wiederbelebt. Der tat sich jedoch schwer, einen passenden Designer zu finden. Die Zeit der Haute Couture scheint vorüber.

Silke Osman

Die Ausstellung im Les Arts Décoratif, Rue de Rivoli 107, Paris, ist bis 31. Januar 2010 dienstags bis freitags von 11 bis 18 Uhr, donnerstags bis 21 Uhr, am Wochenende von 10 bis 18 Uhr geöffnet, Eintritt 8/6,50 Euro.

Foto: Zarte Gebilde: Zwei Abendkleider in Zartrosa und Silberlamé aus dem Jahr 1938, das rechte trug einst die Herzogin von Windsor.          Bild: Les Arts Décoratif


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