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19.09.09 / Weil die Masse oft mehr weiß / Theorie von der »Weisheit der Vielen« könnte Methoden von Entwicklung und Vermarktung revolutionieren

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-09 vom 19. September 2009

Weil die Masse oft mehr weiß
Theorie von der »Weisheit der Vielen« könnte Methoden von Entwicklung und Vermarktung revolutionieren

Experten beherrschen die Welt, ihrem Wort kommt ungleich mehr Gewicht zu als dem eines Normalbeschäftigten. Falsch, sagt US-Autor James Surowiecki: Die Masse sei klüger als einzelne Experten, man müsse ihre Weisheit nur richtig aktivieren.

Sind Menschen wirklich intelligent? Zyniker haben eine einfache Antwort: Ein einzelner Mensch ist intelligent, ja. Aber rotten sich die Menschen zu großen Gruppen zusammen, dann verwandeln sich die einzeln Intelligenten in eine dumme, manipulierbare Meute. Phänomene wie Gruppendruck oder „Massenhysterie“ verkleisterten die Auffassungsgabe. Die Börsenblase lässt grüßen.

Dem scheint eine andere Theorie auf den ersten Blick radikal zu widersprechen, die der 1967 geborene US-Journalist James Surowiecki aufgestellt hat. In seinem Buch „Die Weisheit der Vielen“ behauptet er, dass gemeinsame Gruppenentscheidungen vielfach besser sein können als die Entschlüsse Einzelner. Und zwar selbst dann, wenn es sich bei der Masse um Laien und bei dem einzelnen Menschen um einen hochkompetenten Fachmann handele.

Das Buch erschien zwei Jahre, bevor die Weltfinanzkrise auf dem US-Immobilienmarkt ihre ersten Ausläufer zeigte. Hat nicht der kollektive Wahn immer weiter steigender Preise und Kurse Surowieckis These eindrucksvoll widerlegt? Weltweit jagten Privatanleger, Börsenmakler, Banker und sogar deutsche Provinzpolitiker (über ihre Landesbanken) absurden Gewinnzielen hinterher. Jeder für sich hätte wohl den Verstand aufgebracht, das gefährlich Blasenhafte dieser Preis- und Gewinnspirale zu durchschauen. Doch da eben „alle es machten“, wettete man weiter munter mit – ein typischer Fall von Herdentrieb.

Und für Surowiecki ein Beispiel dafür, wie es eben nicht funktioniert mit der „Weisheit der Vielen“. Um sich diese zu erschließen, müss­ten ein paar Voraussetzungen erfüllt werden. Zunächst müssen die Menschen weitgehend unabhängig von einander entscheiden. Als Beispiel nennt er die amerikanische Kopie der deutschen Erfolgssendung „Wer wird Millionär?“. Dort kann der Kandidat eine Frage ans Publikum weiterreichen, das dann per Mehrheit entscheidet – aber ohne Diskussion, ohne die Einflüsterungen von „Experten“, also jeder für sich, Mehrheit entscheidet. Das Gruppenergebnis treffe die Lösung weit häufiger als die Antwort der per Telefon zugeschalteten „Experten“ aus dem Bekanntenkreis des Kandidaten, so Surowiecki.

Wichtig ist also, dass sich keine machtvolle Persönlichkeit einschaltet, die durch ihre Autorität und Überzeugungskraft das Urteil der Übrigen beeinflusst.

Nach ähnlichem Muster arbeitet auch das deutsche Internetportal „wahlstreet.de“. Dort kaufen die Mitspieler Parteienanteile wie Aktien. Am Ende gilt das Wahlergebnis als der Kurs, den sie für ihre Anlage erhalten, heißt: Liegt das Wahlergebnis über ihrem Einstiegskurs, machen sie Gewinn, liegt er darunter, Verlust. Das hat zur Folge, dass die Mitspieler nur bei solchen Parteien einsteigen, von denen sie glauben, dass ihre Werte steigen werden, und solche veräußern, bei denen sie eine Verschlechterung erwarten. Dabei entscheidet jeder für sich zu Hause. „Wahlstreet“ sagte in den vergangenen Jahren den Wahlausgang oft genauer voraus als die professionellen Demoskopen. Anders als bei „Wer wird Millionär?“ werden bei „wahlstreet.de“ die Entscheidungen anderer zwar im Kursverlauf sichtbar. Doch „anerkannte Experten“ wie im realen Börsenleben gibt es keine.

Zahlreiche andere Beispiele aus den unterschiedlichsten Anwendungsbereichen bestätigen Surowieckis These. Schlügen seine Erkenntnisse in der Welt der Produktion und Vermarktung von Waren Wurzeln, könnte das eine Revolution auslösen.

Die Marktforschung bekäme Konkurrenz und müsste sich darauf einstellen bei ihren Methoden. Auch in Entwick­lung und Produktion wären neue Wege angesagt: Weg von Hierarchie und Fachidiotentum, hin zur Ausnutzung des Fachwissens möglichst aller Beschäftigten. Darin liege nämlich der Hauptvorteil seines Weges, behauptet der Autor: Nur so würde die versammelte Kompetenz aller wirklich optimal genutzt.       Hans Heckel


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