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19.09.09 / Symbiose der Geächteten / Nach dem Ersten Weltkrieg kooperierten das Deutsche Reich und die Sowjetunion auch auf dem Gebiete der Luftfahrt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-09 vom 19. September 2009

Symbiose der Geächteten
Nach dem Ersten Weltkrieg kooperierten das Deutsche Reich und die Sowjetunion auch auf dem Gebiete der Luftfahrt

Von den drei Großmächten unter den Verlierern des Ersten Weltkrieges wurde eine, Österreich-Ungarn, aufgelöst, die beiden anderen, Deutsches Reich und Russland, wurden von den Siegern, der internationalen Staatengemeinschaft, zu Parias gestempelt. Was lag näher, als dass diese beiden Großmächte – zum Leidwesen der Siegermächte – eine Symbiose eingingen. Ein Beispiel dafür ist der Bereich der Luftwaffe.

Diese Symbiose bezog sich nicht zuletzt auf den militärischen Bereich. Russland war militärtechnologisch rückständig und Deutschland waren moderne Waffen wie Panzer, U-Boote und Flugzeuge im Versailler Friedensvertrag verboten worden. Also kooperierte man auch auf diesem Gebiet. Deutschland wollte einen Teil seiner zur Zerstörung bestimmten 15000 Flugzeuge und 28000 Flugzeugmotoren retten, und da boten sich als Versteck die Weiten Russlands an. Die Russen, glücklose Anfänger in Sachen Fliegerei, erhofften von den Deutschen flugtechnisches Know-how. Die Geheimhaltung war so wirksam, dass das damalige Europa außer wenigen vagen Hinweisen nichts davon erfuhr. Erst 2008 hat der russische Verlag „Rusavia“ sie in dem akribischen Wunderwerk „Sekretnaja avioschkola“ (Die geheime Flugschule) durchleuchtet, bis hin zu den allerersten Anfängen.

Am 5. November 1920 beschlossen die höchsten Bolschewikenführer, darunter Lenin, Josef Radek, Leo Trotzki und Michail Iwanowitsch Kalinin, den Deutschen eine militärfliegerische Kooperation anzubieten. Diese akzeptierten das Angebot umgehend, bildeten Anfang 1921 ihre „Sondergruppe R“ (wie Russland) zur Klärung von Sachfragen und wickelten bis Ende 1921 ein Programm wechselseitiger Besuche auf Höchstniveau ab. Offiziell fiel das unter die Umsetzung des Rappallo-Vertrags vom 16. April 1922, in dem beide Länder Frieden und gegenseitige Wirtschaftshilfe vereinbart hatten.

Zur Pflege der immer engeren Kontakte entstand Ende 1923 die deutsche „Zentrale Moskau“. In ihr wirkte der welterfahrene Militärgeograf Oskar Ritter von Niedermayer ebenso lautlos wie effizient. Ursprünglich hatte man auf russischem Boden rein deutsche Reichswehrinstitutionen errichten wollen, gab die Absicht aber bald auf, denn deutscher Flugbetrieb fiel am wenigsten auf, wenn er auf Russlands bekanntestem Flugfeld in Lipezk ablief. Die schöne Stadt, 400 Kilometer südlich Moskaus, seit jeher ein Offiziers-Kurort, war ab 1916 russisches Flugzentrum und ab 1923 Sitz einer sowjetischen Fliegerschule. Ab April 1925 kam die „Stahr-Schule“ hinzu, das von dem Flugpionier Walter Stahr bis 1930 geleitete deutsche „Flugzentrum“.

Bis zum 16. August 1933 bestand das Zentrum. In diesen acht Jahren wurden 234 deutsche Flieger ausgebildet, darunter viele der Fliegerasse des Zweiten Weltkriegs, dazu eine unbekannte Anzahl russischer Flieger und Flugmechaniker. Das russische Buch „Die geheime Flugschule“ hat von vielen die Lebensdaten und Bilder ausfindig gemacht und veröffentlicht. Zudem listet es die in Lipezk erprobten Flugzeugtypen und Waffen auf, was den Wert dieser einmaligen Chronik noch steigert.

Ihr Hauptwert liegt indes in der Behandlung jener Aspekte, die man in militärhistorischen Studien gemeinhin nicht sucht. Dafür ein Beispiel: Bekanntlich mussten die sowjetischen Besatzer in der DDR offiziell als „Freunde“ apostrophiert werden, was sie nie waren. Die Deutschen von Lipezk firmierten in sowjetischen Berichten nur als „drusja“ (Freunde), und das zu Recht. Sie versahen ihren Flugbetrieb, ließen Russen selbstlos daran teilnehmen, und von Geld wurde beiderseits nicht geredet: Deutschland ließ sich Lipezk jährlich zwei Millionen Mark kosten, wovon der Löwenanteil für Bauten verwendet wurde, die später sowjetisches Eigentum wurden. Umgekehrt verlangten die Sowjets keine Kopeke für die Flugplatznutzung, da sie zu Recht ihren Gewinn aus deutscher Flugtechnik, Bewaffnung, Luftaufklärung und dergleichen als unbezahlbar ansahen.

Das Lehrprogramm war anspruchsvoll: 1930 absolvierte jeder Kursant – ob erfahrener „Altmärker“ oder Anfänger-„Jungmärker“ – bis zu 64 Flugstunden. Die 28 Flugzeuge leisteten 3450 Flüge, wobei vielfältigste Aufgaben zu lösen waren. Ab 1930 wurde Lipezk zur WIVUPAL aufgewertet, zur „Wissenschaftlichen Versuchs- und Prüfanstalt für Luftfahrzeuge“, ein aufwendiges Unternehmen, das an deutsche und russische Regierungsstellen höchste Ansprüche stellte. Allein der Transfer der Maschinen, von dem Joint Venture Deruluft, der 1921 gegründeten „Deutsch-Russischen Luftverkehrs AG“, trick­reich inszeniert, war ein logistisches Meisterstück.

Verpflegung, Besoldung und Unterbringung der Deutschen in Lipezk waren tadellos; auch „hunderte russische Lohnarbeiter“ rühmten noch Jahrzehnte später deutsche Löhne und Kantinenessen. Bei den Deutschen ließ sich die Hungersnot ertragen, die Stalins Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in diesen Jahren mit sich brachte. Im Übrigen galt: Dienst ist Dienst, Schnaps ist Schnaps. Vor Flügen bestand Alkoholverbot, aber ansonsten wurde in Lipezk derart heftig gebechert, dass selbst trinkfeste Russen staunten. Karten- und Würfelspiele wurden zwar nicht geduldet, aber Bootsregatten auf dem Fluss Woronesch, Tennisturniere, Jagdpartien und bunte Abende boten die Möglichkeit, sich auch außerhalb des Flugbetriebes näher zu kommen. So eng lebten die „Freunde“ mit Russen zusammen, dass daraus mehrere gemischte Ehen resultierten – ein für den Stalinismus außergewöhnlicher Umstand.

Als die Lipezker Episode 1933 endete, schieden die Deutschen in „Dankbarkeit für die Sowjetunion, die uns Gastfreundschaft erwies, als alle Staaten feindlich gegen uns auftraten“. Wenige Jahre später griff Deutschland die Sowjetunion an. Damals wurde auch Oskar von Niedermayer, einer der „Väter“ von Lipezk, reaktiviert. Widerwillig war er Soldat, wurde im September 1944 von der Gestapo inhaftiert. Im April 1945 floh er zu den Angloamerikanern, die ihn den Sowjets auslieferten. Die verurteilten ihn „wegen Spionage“ zu 25 Jahren Zwangsarbeit und ließen ihn 1948 an offener Tuberkulose sterben.

So wurde Russland Niedermayer zum Schicksal. Die verheißungsvoll begonnene Symbiose der Paria der Pariser Nachkriegsordnung von 1919 endete im Gegenteil.        Wolf Oschlies


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