20.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
03.10.09 / Russki-Deutsch (37): Stolowaja

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-09 vom 03. Oktober 2009

Russki-Deutsch (37):
Stolowaja
von Wolf Oschlies

In ganz Russland“, maulte 1912 der deutsche „Russland-Baedecker“, „gibt es keine einzige gemütliche Kneipe“. Wobei dieses Verdikt regional noch weiter zu fassen ist: Zu „Russland“ gehörte damals Polen, dessen Kneipenmisere so ausgeprägt und so langwährend wie die russische war. Das ist, slawa Bogu (Gott sei Dank), vorbei, und weil auch Russen und Polen gehabte Schmerzen gern haben, können wir uns an gastronomische Vorhöllen wie die „Stolowaja“ erinnern.

„Stolowaja“ ist von „stol“ (Tisch) abgeleitet und bezeichnet eine Kneipe der primitivsten Machart. Manes Sperber, 1961 Autor des Weltsellers „Wie eine Träne im Ozean“, war in jungen Jahren ein gläubiger Salonkommunist. Als solcher kam er 1931 nach Mos-kau, wo sich eine intellektuelle Zynikerin bemühte, ihm den Glauben an Stalins Paradies auszutreiben: „So führte sie mich jedes Mal in eine ,Stolowaja‘, eines jener Wirtshäuser, in denen nichtprivilegierte Moskauer zu Mittag aßen. Das Essen war da noch weit schlechter als jenes der Volksspeisehalle, wo ich während des Kriegs in Wien gearbeitet hatte. Es war da auch viel schmutziger und das Brot ungenießbarer als das Wiener Brot im ... Kriegswinter“.

So blieben die Stolowajas bis zum Schluss, in ihrem Schmutz und der Erbärmlichkeit ihres Speisezettels ohne Pendant in ganz Osteuropa. Zahllose Reiseberichte, auch solche aus der DDR, haben diese Schweineställe für Menschen beschrieben – „Stolowaja“ wurde ein russischer Sprachexport, in der Attraktivität vergleichbar mit Knute, Pogrom und anderen. Aber so etwas tut man nicht ungestraft: Wie der  „traktir“ (Kneipier) und die sowjetische Stolowaja Gäste behandelten, verstieß gegen eine tschechische Lebensweisheit: „Das beste Mittel gegen Alkoholismus sind gemütliche Kneipen!“ Die gibt es inzwischen in Russland, besonders anheimelnd die (deutsch benannte) Kette „Kaffee-Haus“, aber weil es sie zu lange nicht gab, saufen sich Russen seit Jahrhunderten um Kopf und Kragen. Jahr für Jahr ein Bevölkerungsminus von 800000 Menschen, durchschnittliche Lebenserwartung von Männern unter 60 Jahren, drei Viertel aller Straftaten alkoholbedingt. Wo wenn nicht in der Stolowaja nahm dieses russische Unglück seinen Anfang?


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren