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03.10.09 / Bezugspersonen sind nicht gewünscht / Der »Marsch durch die Institutionen« führt bis in den Kindergarten – Zweifelhafte Forderungen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-09 vom 03. Oktober 2009

Bezugspersonen sind nicht gewünscht
Der »Marsch durch die Institutionen« führt bis in den Kindergarten – Zweifelhafte Forderungen

Das Konzept des offenen Arbeitens in Kindergärten verlangt von  den Betroffenen, Kindern wie Erziehern, ein großes Maß an Eigenverantwortung. Selbst Zweijährige sollen schon entscheiden, was gut für sie ist.

Kurz nach der Einstellung erfuhr die junge Erzieherin, dass ihr erster Arbeitsplatz nach Beendigung der Ausbildung im „Rollenspielraum“ eines norddeutschen Kindergartens sein sollte. Zwar hatte sie schon mal vom „offenen Arbeiten“ in diesem Bereich gehört, doch die Irritation, dieses theoretische Konzept in der realen Welt umgesetzt zu sehen, war groß. Statt jeden Tag dieselbe Gruppe annähernd gleichaltriger Kinder zu betreuen, änderte sich hier die Kinderschar in ihrer Zusammensetzung täglich. Jungen und Mädchen im Alter von zwei bis sechs Jahren dürfen hier jeden Morgen frei entscheiden, auf was sie an diesem Tag Lust haben. Der „Rollenspielraum“ ist nur einer von verschiedenen Funktionsräumen.

Für Eltern, die sich über das „offene Arbeiten“ informieren möchten, bietet die Gewerkschaft Erziehung und Wissen (GEW) Informationsmaterial an. „Eigenverantwortung als handlungsleitendes Prinzip in der offenen Arbeit“ so die Überschrift des Kapitels, in dem die Wurzeln dieser Theorie in den 60er Jahren verortet werden. So geht das Konzept auf den vom Studentenführer Rudi Dutschke geforderten „Marsch durch die Institutionen“ zurück. Damals stieg die Unzufriedenheit mit der pädagogischen Arbeit der überwiegend konfessionellen Kindergärten. Diese richteten und richten sich weitgehend nach den Anlässen, die sich aus den vier Jahreszeiten und den kirchlichen Festtagen ergaben und arbeiteten unter Zuhilfenahme vorgefertigter Beschäftigungsmaterialien wie Schablonen und gekauften Spielen. Das war den überwiegend linksstehenden  Reformern zu wenig, wollten sie doch, dass jedes Kind als kleine Persönlichkeit gesehen wird, die eigenverantwortlich über ihr Tun entscheidet. Auch sollten die Erzieher aus ihrer Alltagsroutine herausgehoben werden, indem sie zusammen mit den Kindern Projekte planen und ausführen. In gemischten Gruppen sollten die Zwei- bis Sechsjährigen die Grundlagen lernen, um in einem sozialen und solidarischen Gemeinwesen aktiv zu werden.

„Es ist das tätige, sich aktiv beschäftigende Kind, das zielgerichtet und effektiv Bastel- und Werkvorgaben der Erzieherin aufgreift, gelegentlich auch entwickelt und diese zügig und konsequent in erwünschte Arbeitsschritte und gelungene Produkte umsetzt“, heißt es in den theoretischen Ausführungen des Diplom-Pädagogen Hans-Joachim Rohnke. Von den Kindern wird erwartet, dass sie sich um sich selbst gut kümmern können und dass sie eine gute Wahrnehmungsfähigkeit hinsichtlich der eigenen Befindlichkeiten und Bedürfnisse besitzen.

Und hier scheitert die Theorie meist an der Wirklichkeit. Kleinkinder besitzen eben häufig noch nicht die nötige Entscheidungsfähigkeit, was auch daran liegt, dass der Mensch Entscheidungen aufgrund von Erfahrungen oder Wissen trifft, doch über beides verfügen die Kleinen nur sehr bedingt. Durch die täglich neue Entscheidung für einen Funktionsraum wechseln zudem auch die Erzieher, die an die Räume gebunden sind, und einige Spielkameraden. Dies ist gewollt, denn „die einseitige Bindung an eine Bezugsperson soll schnell abgelegt werden, damit die Kinder lernen, erwachsenenunabhängig Entscheidungen zu treffen“. Gerade in Zeiten hoher Scheidungsraten und immer öfter unehelich geborener Kinder, steigender sozialer Probleme und eines hohen Ausländeranteils ist es jedoch fraglich, ob es pädagogisch sinnvoll ist, auch noch die festen Bindungen an Erzieher und Spielkameraden zu lösen.

Die Geborgenheit traditioneller Kindergartengruppen wird bei der „offenen Arbeit“ als Alltagsroutine abgetan. Doch während die Kinder der 60er und 70er Jahre, als das Konzept entstand, in ihren Elternhäusern so etwas wie „Alltagsroutine“ erleben konnten, ist so etwas heute bei immer weniger Kindern noch der Fall. Immer mehr Erzieher und Lehrer klagen, sie müssten den Kindern bereits Grundlegendes im Umgang miteinander beibringen.

„So ist es möglich“, preist Autor Rohnke die Möglichkeiten des „offenen Arbeitens“ an, „dass ein Kind sich zunächst für eine tätigkeitsintensive Tüftel- oder Forschungstätigkeit in einem gut durchdachten und vor allem auch störungsfreien Funktionsraum entscheidet, ein anderes die Klamottenkiste mit anderen Kindern durchstöbert und ein spannendes Rollenspiel inszeniert, ein drittes in der Bewegungsbaustelle das Trampolin benutzt und ein viertes mit einer ErzieherIn die anstehende Geburtstagsfeier plant…“

In der Praxis zeigt sich, dass dieses Konzept sehr personalintensiv ist, doch genau an diesem fehlt es. Nur wenn genügend Erzieher da sind, können sie trotz täglich wechselnder Kinder den individuellen und altersgemäßen Förderbedarf erkennen. Außerdem müssen sie die erlangten Informationen an alle Kollegen weitergeben, was bei festen Bezugspersonen nicht nötig wäre. Auch muss das Personal darauf achten, dass die älteren, sprachbegabteren Kinder die jüngeren nicht dominieren.

All das hat dazu geführt, dass die ideale Umsetzung der Theorie „offenes Arbeiten“ in die Praxis kaum möglich ist. So ist dann unter Kritikpunkten bei wikipedia nachzulesen: „Mit den Kindern in Vollversammlungen und Kinderkonferenzen den Diskurs zu wagen, ihnen Verantwortung für ihre eigene Zufriedenheit, ihr Lernen und für andere zu übertragen, wird von den Eltern der Kinder und von vielen Vertreter(n)Innen aus der Erziehungswissenschaft als Überforderung angesehen.“ Rebecca Bellano

Foto: Beratung im Kindergarten: Was machen wir jetzt?


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