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17.10.09 / Rangliste der Entwicklung / Die UN versucht, Lebensstandard in Formeln zu pressen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 42-09 vom 17. Oktober 2009

Rangliste der Entwicklung
Die UN versucht, Lebensstandard in Formeln zu pressen

Wer Fortschritt und Entwicklung fördern will, muss wissen, wie es darum steht. Jedes Jahr geben die Vereinten Nationen (UN) darum einen Index heraus. Er soll die wichtigsten Anzeichen der Lebensqualität für jeden Weltbürger abbilden.

Die Datensammlung, bestehend aus Index und weiteren Zahlen, steht in den sogenannten Human Development Reports (HDR), auf Deutsch so viel wie „Bericht(e) zur Entwicklung der Menschheit“. Das Werk bildet die Grundlage weiterer UN-Arbeit sowie für den Einsatz von Nichtregierungsorganisationen. Viel wurde an den Methoden dieser nach Ländern vergleichender Einstufung von Menschen seit ihrem ersten Erscheinen 1990 geändert, beispielsweise die Gewichtung der Einkommen. Das erklärte Ziel, Entwicklung über Jahre zu verfolgen und zu vergleichen, liegt daher in vieler Hinsicht noch fern. Dennoch gilt der HDR nach wie vor als der statistische Schlüssel, der das komplexe Schloss, das effizientere Hilfe für den Einzelnen abblockt, öffnen kann. In dieser UN-Rangliste gliedern sich die Staaten der Erde in vier Kate-

gorien. Die letzte Kategorie ist im aktuellen Report, mit Ausnahme von Ost-Timor, quasi Afrika vorbehalten. In der „mittleren“ Gruppe befinden sich unter anderem die Ukraine zusammen mit Staaten wie China oder Angola, während sich der Libanon oder Brasilien laut HDR-Liste bereits zur hochentwickelten Staatenklasse zählen dürfen.

Über 160 einzelne Faktoren wiegen die Autoren der Studie gegeneinander ab – vom Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung bis zum Jahr, in dem Frauen das Wahlrecht zugesprochen wurde. Möglicherweise erklärt die letzte Messgröße, warum es die Schweiz nicht über Platz 9 hinaus schafft. Einkommen, Lebenserwartung und Bildung liegen im Fokus der Erhebung. Schatteneinkommen oder Korruption aber nicht, was die Vergleichbarkeit beeinträchtigt. Der Index hält auch sonst einige Überraschungen parat: Dass Libyen höher entwickelt sei als Rumänien, dürfte – Öl hin oder her – auch diesseits der Karpaten für Widerspruch sorgen. Staatsformen, rechtlich garantierte Freiheiten und deren Verwirklichung spielen jedenfalls erkennbar eine untergeordnete Rolle.

Die Messgrößen des Papiers sind nicht immer geeignet, das gewünschte Kriterium, beispielsweise „politische Unsicherheit“, sauber zu erfassen.

Ein anständiger Lebensstandard bemisst sich zum einen am Durchschnitt der Menschen, denen keine verbesserten Wasserquellen zur Verfügung stehen, zum anderen am Prozentsatz von Kindern unter fünf Jahren, die untergewichtig sind. Solche Einstufungsgrundlagen wirken willkürlich, da massive Wasserprobleme auch europäische Mittelmeeranrainer oder wohlhabende Wüstenstaaten betreffen.

Staaten, die Frauen von weiten Bereichen des Lebens ausschließen, können trotzdem weit nach vorne gelangen, denn die Beteiligung beider Geschlechter an Einrichtungen der Gemeinwesen berücksichtigt das Werk nicht. Migration und Mobilität – im Inneren wie nach außen – heißen dagegen die Formeln, denen ein Hauptaugenmerk der Untersuchung gilt.

Das oft hohe Maß an Ungleichheit in der jeweils untersuchten Gesellschaft spiegelt der Bericht dagegen wenig wider. So wurde in der Vergangenheit beispielsweise Brasilia als im Dschungel gelegene und einst am Reißbrett geplante Hauptstadt Brasiliens als Ort hoher Entwicklung gefeiert – dass dies allein auf die künstliche Ballung bezahlter Staatsdiener zurückzuführen ist, spielte für die Studie keine Rolle. Als politische Richtschnur ist die Liste daher ein irreführendes Instrument, nicht zuletzt weil die heute so begehrte Frage der „Teilhabe“ am vermeintlich besseren Leben nicht genug Raum bekommt. Sverre Gutschmidt

 

Zeitzeugen

Mahbub ul-Haq − Der pakistanische Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige Weltbank-Direktor  (1934−1998) gilt als einer der „Väter“ des Human Development Index. Seine Forschungen mit dem Schwerpunkt Theorien der Menschheitsentwicklung förderte der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen. Ab 1989 beriet er das für den Index verantwortliche Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, dessen zentrales Anliegen die Förderung der am wenigsten entwickelten Staaten ist. Ul-Haq hatte am Ausbau des jährlichen Reports zu einem umfangreichen Index maßgeblich Anteil.  

 

Amartya Sen − Der indische Wirtschaftswissenschaftler, Nobelpreisträger (1998 für Wirtschaft) und Philosoph, beschäftigt sich mit Fragen der Armut und Wohlfahrt in ihren Wirkungen auf die Demokratie. Früh erlebte der Bengale Hungersnöte und soziale Verwerfungen in seiner Heimat Indien. Nach dem Studium in Kalkutta wirkte er an der London School of Economics und weiteren Elite-Universitäten wie Oxford, Cambridge und Harvard. Er berät Organisationen wie Oxfam aber auch die französische Regierung. Sen legte mit seinen Veröffentlichungen die Grundlage für den Human Development Index. In diesem Projekt arbeitete er ab 1989 eng mit ul-Haq zusammen.

 

Mark Malloch Brown − Der 56-jährige Brite, derzeit Minister für Afrika, Asien und die UN in der britischen Regierung, war 1999 bis 2005 Administrator des UN-Entwicklungsprogramms und reformierte als solcher den Index. Zuvor war er bei der Weltbank tätig. Unter seiner Federführung kam ein UN-Bericht speziell für die arabische Welt zustande.

 

Bryan Caplan − Der 38 Jahre junge US-Ökonom gilt als einer der schärfsten Kritiker des Human Development Index. Kaufkraft und Lebenserwartung der Menschen würden beim Abwägen der zahlreichen Faktoren in der Gesamtbewertung falsch gewichtet, so sein Vorwurf. Jene zwei Faktoren seien von Natur aus begrenzt, immer weitere Entwicklung nach Erreichen einer Obergrenze unmöglich. Das werde aber nicht berücksichtigt, lautet Caplans Kritik. Er ist Professor an der George Mason University nahe Washington.


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