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31.10.09 / Verkommene Gesellschaft / Eine Stadt schaut weg

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 44-09 vom 31. Oktober 2009

Verkommene Gesellschaft
Eine Stadt schaut weg

30 Jahre lang ging Eduard Zimmermann in der Sendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“ auf Verbrecherjagd. Kürzlich ist der beliebte Fernsehmoderator verstorben. Doch für diesen Kriminalfall würde „Ganoven-Ede“ vielleicht noch einmal aus dem Grabe steigen. Der schottische Autor John Burnside erzählt in seinem neuen Roman „Glister“, wie in einer eng-lischen Kleinstadt mehrere Jungen verschwinden. Die Eltern und die meisten Bewohner geben sich mit der Erklärung zufrieden, die Jugendlichen seien von daheim abgehauen.

Es scheint, als hätten die giftigen Substanzen aus der stillgelegten Chemiefabrik die Menschen nicht nur physisch („Manche Jugendliche schaffen es nicht einmal bis zu ihrem 20. Lebensjahr.“), sondern auch psychisch krank gemacht und abgestumpft. Die verlassene Anlage strahlt eine seltsame Faszination aus. Sie zeugt von einer besseren Vergangenheit, als Hoffnung und Wohlstand die Stadt belebten. Während die ehemaligen Werksleiter weggezogen sind, bleiben die Arbeiter frustriert über Jobverlust und Armut zurück. Die Kinder sind sich selbst überlassen. Sie lungern auf der Straße, bilden Banden, jagen mutierte Tiere oder vertreiben sich die Langeweile mit Sex. Innertown nennt Burnside seine Stadt, in der die Bewohner „wie Fliegen auf einem Klebestreifen gefangen“ sind. Sie steht symbolisch für jeden beliebigen Ort der westlichen Welt, der von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen geprägt ist.

Die verseuchten Wälder am Stadtrand werden schließlich zum Schauplatz des Verbrechens. Eines Tages findet Wachtmeister Morrison hier einen der vermissten Jungen ermordet auf. Doch bald stellt er auf Druck des einflussreichen Firmenbosses Brian Smith die Ermittlungen ein und auch der Rest der Bevölkerung schweigt.

Burnside bezeichnet diese Gleichgültigkeit als Sünde: „Die Sünde, nicht wissen zu wollen; die Sünde, alles zu wissen und nichts dagegen zu tun.“ Nur der 15jährige Außenseiter Leonard Wilson begibt sich auf Spurensuche nach seinem verschwundenen Freund Liam. Bei seinen Streifzügen durch die Wälder und das Fabrikgelände wandert der Leser durch Leonards Gedanken- und Gefühlswelt. Diese beherrscht eine ohnmächtige Wut und Trauer über die Zustände der Gesellschaft: „Dafür sind Schulen schließlich da. Sie trainieren uns in der lebenswichtigen Disziplin, machtlos zu sein.“ Filme und Bücher sind für den sensiblen Jungen die einzige Verbindung zur Außenwelt. Wird er gemeinsam mit dem Bibliothekar John die Wahrheit aufdecken?

Burnsides „Glister“ ist ein spannender, verstörend poetischer Thriller. Auffällig sind die vielen religiösen Elemente von Lichtern und Erscheinungen über Tore zu einer anderen Welt bis hin zum ominösen Engelswesen des Mottenmanns. Häufig ist die Rede von Sünde und Erlösung. Leonards Gedankenmonologe halten einer moralisch verwahrlosten und einsamen Gesellschaft den Spiegel vor. Ein düsteres Porträt, das angesichts von Tschernobyl, Wirtschaftskrise und Kindesmisshandlungen nahegeht.         Sophia E. Gerber

John Burnside: „Glister“, Knaus Verlag, München 2009, geb., 288 Seiten. 18 Euro


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