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07.11.09 / »Unrechtsfolgen der Vertreibung heilen« / Professor Hans-Detlef Horn über Minderheitenrechte, Enteignungen und den Vertrag von Lissabon

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-09 vom 07. November 2009

»Unrechtsfolgen der Vertreibung heilen«
Professor Hans-Detlef Horn über Minderheitenrechte, Enteignungen und den Vertrag von Lissabon

Mehrfach kehrte in den vergangenen Monaten die Problematik der Vertreibung in die politische Dis-kussion zurück. Der Völkerrechtler Professor Hans-Detlef Horn (Marburg) erläutert im Gespräch mit Konrad Badenheuer vernachlässigte rechtliche Aspekte dieser politischen Debatten

PAZ: Seit einigen Monaten sollen deutsche Einwohnermeldeämter Deutschen, die zwischen 1945 und 1990 in den Oder-Neiße-Gebieten geboren wurden, bescheinigen, sie seien in „Polen“ beziehungsweise „Russland“ zur Welt gekommen. Was ist davon aus völkerrechtlicher Sicht zu halten?

Hans-Detlef Horn: Davon ist völkerrechtlich rein gar nichts zu halten. Es widerspricht jedenfalls der zumindest bis zu den Ostverträgen der frühen 70er Jahre der von allen Bundesregierungen vertretenen Position. Dass nun der 2. August 1945, also der Schlusstag der Potsdamer Konferenz, zum Stichtag dafür genommen werden soll, seit wann aus deutscher Sicht die Oder-Neiße-Gebiete Ausland geworden seien, verleiht zudem den Beschlüssen dieser Konferenz eine Bedeutung, die sie nie hatten, und zwar auch nicht nach Auffassung der Alliierten.

PAZ: Ein Vertreter Deutschlands saß 1945 nicht am Tisch. Können solche Beschlüsse, die zudem nie ratifiziert wurden, da überhaupt rechtliche Wirkung entfalten − selbst dort, wo sie nicht gegen das allgemeine Völkerrecht verstoßen?

Horn: Die Protokolle sind aus deutscher Sicht in der Tat eine so genannte „res inter alios gesta“. Als Beschlüsse zulasten Dritter können sie keine völkerrechtliche Validität bekommen. Vielmehr ist das Offenhalten der Grenzfrage gerade der mindeste Ausdruck davon gewesen, dass die Politik der vollendeten Tatsachen Stalins keine Anerkennung erfahren sollte.

PAZ: Bundesminister Schäuble, der die entsprechende Empfehlung vom März verantwortet, ist ein exzellenter Jurist. Weiß er so etwas nicht?

Horn: Hier muss man natürlich auch differenzieren. Es trifft zu, dass das Empfehlungsschreiben des Bundesinnenministerium (BMI) an die Landesinnenministerien für sich genommen keine völkerrechtliche Wirkung hat, jedenfalls keinen völkerrechtlichen Akt darstellt. Allerdings wurde diese Empfehlung völkerrechtlich begründet. Diese Begründung, die inhaltlich − vorsichtig gesagt − befremden muss, gibt dem Schreiben eine Relevanz, das es sonst wohl nicht hätte. Das wiederum war dem BMI sicherlich nicht unbekannt.

PAZ: Wie erklären Sie sich dann das Handeln des BMI, das ja offenbar mit anderen Teilen der Bundesregierung, insbesondere mit dem Kanzleramt und dem Auswärtigen Amt, abgestimmt war?

Horn: Das Bundesinnenministerium selbst argumentiert mit praktischen Notwendigkeiten bei der Vergabe der Steueridentifikationsnummern. Als weitere Erklärung kommt sonst wohl nur zeitgeistbedingte, diplomatische Rücksichtnahme auf polnische Empfindlichkeiten in Frage.

PAZ: Selbst das SED-Regime war nicht bereit, bei der Grenzanerkennung vor den Tag des Görlitzer Vertrags im Sommer 1950 zurückzugehen. Überholt Schäuble Grotewohl in dieser Frage links?

Horn: So gesehen, haben sie Recht.

PAZ: Was ist denn nun aus völkerrechtlicher Sicht der Tag, an dem Schlesien, Pommern, Ostbrandenburg und Ostpreußen polnisch respektive russich wurden?

Horn: Mit dem 2+4-Vertrag vom September 1990 wurden die Potsdamer Beschlüsse, die in der Grenzfrage unstrittig keine völkerrechtliche Festlegung getroffen haben, „aufgelöst“ wie es im Vertragstext heißt. Was die deutsch-polnische Grenze angeht, so findet sich in dem Abkommen zwar das Wort „bestätigen“. Das hat manche Deutungsunsicherheiten aufgeworfen. Doch bezieht sich das offenbar nur auf die vorstehenden Sätze, in denen es heißt, das vereinte Deutschland bestehe territorial aus dem Gebiet der (bisherigen) Bundesrepublik Deutschland, der DDR und Berlins. Diese Festlegung ist, was die Außengrenzen Deutschlands angeht, konstitutiv. Dass eine frühere Grenzfestlegung im völkerrechtlichen Sinne nicht stattgefunden hat, belegt ja auch die erst mit dem 2+4-Vertrag beendete Verantwortlichkeit der vier Alliierten Siegermächte für Deutschland als Ganzes, das seinerseits unzweideutig auf das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 bezogen war.

PAZ: Sie würden aber nicht argumentieren, dass die Gebiete de iure erst mit dem deutsch-polnischen Grenzvertrag übergegangen sind?

Horn: Nein, dieser Vertrag hat die Grenzziehung nur noch zweiseitig nachvollzogen. Die Gebietsübertragung geschah mit dem 2+4-Vertrag, und zwar mit dessen Unterzeichnung am 12. September 1990, nicht erst mit dessen späterem formellen Inkrafttreten.

PAZ: Das Schreiben des BMI deutet die „Bestätigung“ der Oder-Neiße-Grenze mit dem subtilen Wort „Streitbeilegung“...

Horn: Es ist durchaus delikat, dass dieser Begriff in diesem Zusammenhang auftaucht. Denn von Streitbeilegung wird völkerrechtlich − ähnlich wie in der Umgangssprache − dann gesprochen, wenn ein Konflikt ohne Entscheidung in der Sache politisch beendet werden soll.

PAZ: Was sogar heißen könnte, dass das Thema eines Tages wieder zurückkehrt?

Horn: Für eine solche Interpretation ist der Begriff der Streitbeilegung in der Tat an sich offen. Das aber lag sicherlich weder in der Absicht der Juristen des BMI noch anderer gleichlautender Äußerungen in der Literatur.

PAZ: Was aber eine völkerrechtliche Grundlage insofern hätte, als die der Grenzanerkennung im Jahre 1990 zugrunde liegende Vertreibung von Millionen Deutschen als internationales Verbrechen gar nicht anerkannt werden darf?

Horn: Sie sagen es. Der 2+4-Vertrag umschifft diese völkerrechtliche Klippe sprachlich einigermaßen sauber dadurch, dass dort eben nicht von der Anerkennung einer (völkerrechtswidrigen) Annexion die Rede ist, sondern dass eher eine Aufgabe oder ein Verzicht territorialer Souveränität gemeint ist. Hier unterscheidet der Vertrag sich klar vom Görlitzer Abkommen zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen, das schon deswegen nichtig ist, weil dort ganz unzulässig eine Annexion anerkannt wird.

PAZ: Im tatsächlichen Ergebnis ist der Unterschied nicht groß...

Horn: Da haben Sie recht, weswegen es umso wichtiger wäre, unabhängig von der Grenzfrage auf eine Heilung der Unrechtsfolgen der Vertreibung hinzuwirken. Hier haben beispielsweise Ungarn und die baltischen Staaten, aber auch die Slowakei und Rumänien weiterführende Zeichen gesetzt.

PAZ: Haben Schulen und öffentlich-rechtliche Medien genug getan, um diesen Teil der deutschen Frage so im Bewusstsein der Menschen zu halten, wie es beispielsweise das Bundesvertriebenengesetz verlangt?

Horn: Das muss ich nach meinem Eindruck klar verneinen, wenn ich nur an die Lehrpläne meiner Kinder denke, die selbst an bayerischen Gymnasien das Thema Vertreibung allenfalls ganz am Rande mitbekommen haben. Es scheint auch kaum geeignetes Lehrmaterial zu geben, außer vielleicht jüngst die „50 Thesen zur Vertreibung“ von Alfred de Zayas, die dafür bestens geeignet wären. Für die öffentlich-rechtlichen Medien trifft das genannte Versäumnis eher noch stärker zu. Erst in den letzten Jahren scheint sich hier eine Verbesserung abzuzeichnen.

PAZ: Würden Sie als Völkerrechtler ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ in der Hauptstadt, in Berlin, begrüßen?

Horn: Dieses Vorhaben setzt endlich ein „sichtbares Zeichen“ gegen den gröbst völkerrechtswidrigen Akt, den jegliche Vertreibung darstellt, und es proklamiert für jedermann vernehmbar das Menschenrecht auf die Heimat. Das Zentrum verdient daher unser aller Unterstützung, keineswegs nur die der unmittelbar Betroffenen und Opfer.

PAZ: Wie bewerten Sie den Umgang Polens und der Tschechischen Republik (CR) mit ihren nationalen Minderheiten – nicht nur mit den verbliebenen Deutschen?

Horn: Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen diesen beiden Ländern und beispielsweise Ungarn oder Rumänien. Dort spielt die Ideologie des antifaschistischen Kampfes eine viel geringere Rolle, darum geht man weit offener und selbstbewusster mit dem deutschen Erbe im eigenen Land um als in Polen und der Tschechischen Republik.

PAZ: Auch der Umgang mit dem jüdischen Alteigentum ist ein ganz anderer: Ungarn und Rumänien geben viel mehr davon zurück als Polen und die CR...

Horn: Diese Rück-gabe oder andernfalls Entschädigung, die völkerrechtlich geboten ist, müsste eigentlich unmittelbar aus dem „antifaschistischen“ Ansatz der polnischen und tschechischen Politik fließen. Wenn Wiedergutmachung selbst in diesem Bereich dennoch verweigert wird, dann offenbar aus der Sorge vor zu hohen wirtschaftlichen Lasten.

PAZ: Dagegen spricht, dass es in Ungarn viel mehr jüdisches Alteigentum gibt als in der CR und dass Naturalrestitution auch nichts kostet. Ist es nicht doch eher die Sorge vor Präzedenzfällen angesichts Millionen deutscher Alteigentümer?

Horn: Das Prinzip der Nichtdiskriminierung würde natürlich im Falle einer Rückgabe jüdischen Eigentums auch Forderungen anderer unschuldig Vertriebener und Enteigneter ermutigen. Andererseits ließe sich beispielsweise mit einer Stichtagsregelung zum 8. Mai 1945 schon mal wenigstens für diese Ansprüche der Weg einer Restitution öffnen.

PAZ: Auffällig ist, dass Berlin sich in keiner Weise zumindest für dieses Stück Vergangenheitsbewältigung in Ostmitteleuropa einsetzt.

Horn: Wofür ich auch keine Erklärung habe außer Rücksichtnahme auf politische Empfindlichkeiten. Ähnliches gilt im Hinblick auf die SBZ-Enteignungen. Aber hier scheint sich ja nun, glaubt man der Koalitionsvereinbarung, etwas zu bewegen.

PAZ: Eine Frage zum EU-Reformvertrag von Lissabon: Gefährdet das Inkrafttreten dieses Vertrages die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland?

Horn: Der Reformvertrag vertieft die Integration und macht die EU zum Völkerrechtsubjekt mit eigenen Organen, was sie bisher de iure nicht war. Der alte EU-Vertrag war nur ein „Dach“ über der schon vor Jahrzehnten errichteten Europäischen Gemeinschaften. Und doch wird die EU mit Lissabon nicht in einen Bundesstaat umgewandelt. Die Mitgliedsstaaten, das stellt der Vertrag selbst an mehreren Stellen fest, bleiben die „Herren der Verträge“ und deswegen auch souverän. Etwas anders wäre schon deswegen nicht zulässig, weil es der EU andernfalls an der gebotenen demokratischen Legitimation fehlte.

PAZ: Also „alles in Butter“ aus deutscher Sicht?

Horn: Das auch wieder nicht. Es lassen sich im Vertrag mehrere potenzielle „Einbruchstellen“ dafür finden, dass die EU neue Kompetenzen an sich ziehen könnte, die im Vertrag selbst nicht vorgesehen sind. Man könnte auch von „offenen Flanken“ für eine Verselbstständigung der EU sprechen. Eben dagegen hat sich das Karlsruher Urteil vom 30. Juni gewandt, das die Integrationsverantwortung von Bundestag und Bundesrat betont hat.

PAZ: Hat der Bundestag angemessen „nachgebessert“?

Horn: Das überarbeitete Begleitgesetz zum Lissabon-Vertrag sichert meines Erachtens diese Integrationsverantwortung des deutschen Parlaments hinreichend ab, die nun freilich in der Praxis entsprechend wirksam wahrgenommen werden muss. Sollten hier größere Versäumnisse auflaufen, bleibt aber der Weg nach Karlsruhe offen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich unter Betonung einer gebotenen europafreundliche Auslegung des Grundgesetzes vorbehalten, Kompetenzüberschreitungen („ultra vires“-Verstöße) der EU abzuwehren und über die deutsche Verfassungsidentität zu wachen.

PAZ: Was sagen Sie zu dem Vorbehalt gegen die Anwendung der EU-Grundrechtecharta, die sich der tschechische Präsident Vaclav Klaus zur Bestandswahrung der Benesch-Dekrete zusichern ließ?

Horn: Das ist ein politisch-moralisches Armutszeugnis – und abgesehen davon ein Vorgang, dessen Vereinbarkeit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention erst noch zu prüfen wäre.

Foto: Königsberg: Zusammen mit anderen Dozenten lehrt Professor Hans-Detlef Horn hier an der „Sommeruniversität“ für russische Studenten. Auf dem Lehrplan steht etwa das Europarecht.


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