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21.11.09 / Holocaust, Völkermord oder was? / Der internationale Streit um die Interpretation des Holodomor ist groß, da die Konsequenzen immens sind

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 47-09 vom 21. November 2008

Holocaust, Völkermord oder was?
Der internationale Streit um die Interpretation des Holodomor ist groß, da die Konsequenzen immens sind

In Russland an der unteren Wolga, in Kasachstan, im Kuban-Gebiet, besonders aber in der Ukraine kamen 1932/1933 bis zu sieben Millionen Menschen bei einer entsetzlichen Hungersnot ums Leben. Die Ukrainer nennen dieses sie heute noch traumatisierende Ereignis „Holodomor“, was auf Deutsch so viel heißt wie „durch Hunger sterben lassen“. Sie werfen der damaligen Sowjetführung unter KP-Generalsekretär Josef Stalin vor, damit einen Völkermord verübt zu haben.

Die heutige russische Führung verteidigt Stalin damit, er habe in seinem ersten Fünfjahresplan die Kollektivierung der Landwirtschaft durchsetzen wollen. Das hätte nach seiner Vorstellung die Lebensmittelversorgung sichergestellt, welche die werktätige Bevölkerung in den Industriezentren benötigte. Dafür habe man Maschinen importieren müssen, und die Devisen dafür wären auch durch Getreideexport aus der Ukraine erzielt worden. Seit 1987 gibt Moskau aber zumindest zu, dass dabei mit ungeheurer Brutalität verfahren wurde.

Die Bauern, sofern sie nicht schon ab 1928 in eine Kolchose gepresst waren, hatten rigorose Ablieferungspflichten zu erfüllen, ohne Rücksicht auf den Ernteertrag. Wenn sie nicht die vorgeschriebene Menge Getreide brachten, mussten sie ersatzweise Fleisch, Fett, Milch etc. liefern. Viele weigerten sich, schlachteten aus Trotz ihr Vieh, versteckten ihre Getreidevorräte. Da wurden Greifkommandos ausgeschickt, die oft genug einfach alles mitnahmen, wessen sie habhaft werden konnten. Das Ergebnis war flächendeckende Hungersnot. Ganze Dörfer starben aus, die Leichen lagen in Haufen unbestattet auf den Straßen, viele Fälle von Kannibalismus sind bezeugt.

Es war auch eine Machtfrage; durch die Staatskontrolle über die Landwirtschaft sollte das freie Bauerntum gebrochen werden. Das Schimpfwort „Kulak“ machte die Runde. Eigentlich bedeutet das Wort „Großbauer“, aber in der stalinistischen Propaganda wurde es zum Synonym für reaktionäres Gesindel, das seine Knechte ausbeutet und seine Güter für schmutzige Spekulationen hortet. Wer nicht gerade armselig dahinvegetierte, galt schnell als „Kulak“ und wurde umgebracht, meistens aber in den kalten Norden des Riesenreiches deportiert. Die Zahl dieser Deportationsopfer wird auf rund 1,8 Millionen geschätzt.

Also verheerende Ideologie, sagen die Moskauer heute, nicht nationaler Kampf der Russen gegen die Ukrainer. Denn an der Wolga und am Kuban habe es auch die Russen getroffen. Kein Geno-Zid („Völkermord“) also, sondern sozusagen ein Sozio-Zid, tödlicher Klassenkampf.

Dagegen argumentieren die Ukrainer, die Machtfrage sei gleichzeitig eine nationale Frage gewesen. Stalin habe, als er vom Widerstand der ukrainischen Bauern hörte, sofort gefürchtet, dass dahinter eine nationalistische Verschwörung im Zusammenspiel mit den Polen stecke. Dort lebte nämlich im Südosten des Landes, in Ostgalizien eine über sechs Millionen starke ukrainische Volksgruppe, mit deren Hilfe sie der jungen Sowjetmacht die Ukraine durch Subversion wieder zu entreißen getrachtet hätten. Da hätten die sowjetischen Ukrainer eben durch Hunger gebrochen werden müssen. So habe es der stalinschen Verschwörungs-Paranoia entsprochen.

Nach der „orangenen Revolution“ vom Winter 2004/2005 kam das Thema auch amtlich in neuen Schwung. Die nationale Deutung des „Holodomor“ fand Eingang in die Schulbücher. Der 25. November 2006 war der erste offizielle „Tag des Gedenkens an die Opfer des Holodomor und der politischen Repressionen.“ Ein nach polnischem Vorbild gegründetes „Institut des nationalen Gedenkens“ sollte die Erinnerung festhalten. In allen regionalen Zentren der Ukraine waren entsprechende Denkmäler zu errichten. In der Nähe des Kiewer Höhlenklosters sollten ein Denkmal, ein Museum und ein wissenschaftliches Institut zum Thema angesiedelt werden.

Artikel 1 des Gesetzes vom 28. November 2006 „über den Holodomor in der Ukraine in den Jahren 1932 und 1933“ dekretiert, dass es sich damals um Völkermord gehandelt habe. Leugnung wird durch Artikel 2 verboten als „Verhöhnung des Gedenkens der Opfer“. Die Opposition in Kiew, die russlandfreundliche „Partei der Regionen“, wollte Russisch als zweite Staatssprache einführen und musste sich das vorwerfen lassen als „Versuch, den kulturellen Schlag des Holodomor gegen die Ukraine auch für die Zukunft festzuschreiben“.

Präsident Wiktor Juschtschenko ging auch international in die geschichtspolitische Offensive. Bis zum 31. Oktober 2007 hatten Argentinien, Australien, Ecuador, Georgien, Kanada, Litauen, Peru, Polen, Spanien, Ungarn, der Vatikan und auch die USA den Holodomor als Genozid anerkannt. Am 7. September 2009 ist in Warschau im Beisein der beiden Staatspräsidenten ein Denkmal für die Opfer der Hungerkatastrophe enthüllt worden. Das Europäische Parlament stufte den Vorgang immerhin im Herbst 2008 als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein.

Weniger Erfolg hatte Juschtschenko mit seinem Ende 2008 unternommenen Versuch, in der Uno eine Resolution durchzusetzen, die den Genozid feststellt. Das hätte die Einforderung von Schadensersatz durch Russland als dem Rechtsnachfolger der Sowjetunion erleichtert. Es gelang den Russen jedoch zweimal, den Antrag von der Tagesordnung abzusetzen.

Fürchtet Russland Wiedergutmachungsansprüche, so Israel eine Relativierung der Judenmorde. Das israelische Außenministerium hat seine Ablehnung der Klassifizierung des Holodomor als Holocaust zu Beginn dieses Jahres gegenüber der russischen Presse mit den Worten begründet: „Holocaust, das ist allein der Genozid, der an uns Juden verübt wurde.“                Bernd Rill

Foto: In der Ukraine sind die Opfer des Stalinismus keine Opfer zweiter Klasse: Der ukrainische und der US-Präsident mit ihren Ehefrauen am Monument für die Opfer des Holodomor in Kiew


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