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28.11.09 / Das Bildungschaos weitet sich aus / Mehrere mittlere Medizinberufe werden »akademisiert« − Spitzenverbände loben Aufwertung, GKV warnt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 48-09 vom 28. November 2009

Das Bildungschaos weitet sich aus
Mehrere mittlere Medizinberufe werden »akademisiert« − Spitzenverbände loben Aufwertung, GKV warnt

600 Euro Studiengebühr im Semester? Angehende Physiotherapeuten müssen oft mehr als das Doppelte bezahlen, leiden aber oft unter ähnlichen Problemen wie die demonstrierenden Studenten.

Voller Unverständnis nahm die 20-jährige Doris die Nachrichten von Studentenprotesten zur Kenntnis. Was jammern die doch überwiegend noch aus wohlhabenderen Familien stammenden Studenten über 600 Euro Studiengebühr im Semester, fragte sich die junge Frau. Die Realschülerin, deren Eltern beide in der Türkei geboren wurden und als Putzfrau und Gärtner die siebenköpfige, aramäische Familie versorgen, arbeitet seit zwei Jahren als ungelernte Kraft bei einem Discounter. Für sie ist diese ungeliebte Tätigkeit die einzige Möglichkeit, das Geld für ihren Traumberuf zusammenzusparen. 365 Euro kostet die Studiengebühr im Monat, die sie zahlen muss, um an einer medizinischen Fachschule in drei Jahren den Beruf der Podologin zu erlernen. Aufgrund der geringen Verdienstmöglichkeiten als medizinische Fußpflegerin wird sich ihre finanzielle Investition nur ideell, aber kaum je finanziell auszahlen.

Die 30-jährige Physiotherapeutin Kristina hatte das Glück, dass ihre Eltern einst die rund 20000 Euro für die dreijährige Ausbildung an der Fachschule trugen. Derzeit schult die zweifache Mutter jedoch um, denn auch wenn der Beruf der Physiotherpeutin viele schöne Seiten hat, so sei er doch ein anstrengender Knochenjob. Das Einstiegsgehalt einer Physiotherapeutin läge derzeit bei 1800 bis 2000 Euro brutto. Fortbildungen kosteten zwischen 2000 und 4000 Euro, um dann einen um 50 Cent erhöhten Stundenlohn zu bekommen.

Und auch die Physiotherapeuten erleben derzeit eine Veränderung ihrer Ausbildung, die sich von den gegen die unstrukturierte Einführung der Bachelorstudiengänge demonstrierenden Studenten kaum unterscheidet.

„Akademisierung von Medizinberufen“ heißt das Stichwort. Im Sommer haben Bundestag und Bundesrat die Einführung einer „Modellklausel“ in die Berufsgesetze der Hebammen, Logopäden, Physiotherapeuten und Ergotherapeuten beschlossen. Sie sieht vor, dass diese vier Berufsgruppen demnächst auch an Hochschulen ausgebildet werden können. Damit entspricht der Gesetzgeber den Forderungen der Berufsverbände, des Sachverständigenrates und auch des europäischen Umfeldes.

Monika Rausch vom Bundesverband der Logopäden befürwortet, dass die Politik, wie vom Verband seit 1926 gefordert, den Beruf durch die Akademisierung endlich aufwertet, auch wenn Fach- und Hochschule erstmal noch nebeneinander liefen. Dabei verlange die Veränderung des Berufsbildes mehr Forschung und wissenschaftliches Denken, so dass eigentlich nur noch an Hochschulen ausgebildet werden sollte, schließlich sei der Beruf der Logopädie „kein Handwerk, sondern ein Denkwerk“, so Rausch. Auch der Berufsverband der Hebammen äußerte sich gegenüber der PAZ ähnlich. Eine komplexe Materie verlange eben auch eine komplexere Ausbildung, so der Tenor.

Dass diese Medizinberufe bei der jetzigen Entwicklung Haupt- und Realschülern künftig verschlossen würden, ist für die beiden Verbände kein Argument. Sie betonen, dass bereits jetzt 80 Prozent derjenigen, die diese Berufe erlernen, zumindest Fachabitur hätten. In einigen Bundesländern böten zudem auch Fachschulen Haupt- und Realschülern mit Berufsausbildung die Immatrikulation zum neuen Bachelorstudium Physiotherapie an, wenn sie zuvor eine „Immaturenprüfung“ bestünden. Kostenpunkt bei einer Fachschule in Buxtehude rund 600 Euro Studiengebühr − im Monat. Wer hier studiert, weiß genau, was er will.

Da mit der neuen Regelung bei den Medizinberufen auch die Wettbewerbsfähigkeit im europäischen Vergleich erhöht werden soll, bringt die Akademisierung theoretisch eine europaweite Mobilität. Hier geht es den Berufsanwärtern der vier medizinischen Versuchsberufe ähnlich wie den demonstrierenden Studenten. Europa, der Bund, 16 Bundesländer, die Berufsverbände, zahlreiche häufig gewinnorientierte, private Fachschulen, Hochschulen und Uni-Klinken mischen auf dem Ausbildungsmarkt mit und sorgen für eine Vielfalt, die auf Außenstehende chaotisch wirken kann. Ist ein sich im Aufbau befindliches Hochschulstudium besser als eine Fachschulausbildung? Wo sind die besseren Dozenten und Lehrpläne, der bessere Kosten-Nutzen-Effekt? Welcher Anbieter wird von potenziellen zukünftigen Arbeitgebern am ehesten anerkannt?

Zumindest die Hamburger Arbeitsagentur ist da ähnlich ratlos. So mitten im Umbruch sei es schwer, sich jetzt schon ein Urteil zu bilden. Doch angesichts der Tatsache, dass die jungen Menschen, die eher Mittelschichtsfamilien entstammen, bereits im Voraus Investitionen in Höhe eines Mittelklassewagens tätigen müssen, ist die derzeitige Informationslage erschreckend unübersichtlich.

Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) warnt zudem davor, dass mit der Akademisierung auch die Praxisnähe gefährdet sei. Er befürchtet zudem die „Schaffung einer Vielzahl regionaler Insellösungen“, so dass das bundeseinheitliche Profil dieser Berufe verloren gehe. Zudem bedeute eine Akademisierung auch höhere Gehaltserwartungen der Absolventen. Diese würden langfristig die Ausgaben der Kassen erhöhen, ohne dass dies, so die GKV, eine Verbesserung der Versorgung bedeute.            Rebecca Bellano

Foto: Knochenjob Physiotherapie: Anstrengende Arbeit bei teurer Ausbildung - und später wenig Gehalt.


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