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28.11.09 / US-Autorin klärt Deutsche auf / Das Kaiserreich war viel demokratischer als andere Länder Europas

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 48-09 vom 28. November 2009

US-Autorin klärt Deutsche auf
Das Kaiserreich war viel demokratischer als andere Länder Europas

„Der lange Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler) und „Der deutsche Sonderweg“ (Hans-Ulrich Wehler) bezüglich Demokratie sind Schimären, wie dem Werk der Professorin für europäische Geschichte in Berkley, Margaret Lavinia Anderson, zu entnehmen ist. In „Lehrjahre der Demokratie – Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich“ führt sie an, dass deutsche Männer (Frauenwahlrecht gab es noch nirgends) seit 1867 im Norddeutschen Bund gleich und geheim und seit 1871 im Reich wählen durften. Nur die Griechen und Franzosen (1844/1852) durften früher mitentscheiden. Gleiches Wahlrecht gab es in England erst 1949, in den gesamten USA erst 1965. Deutsche wählten bis 1893 alle drei, dann alle fünf Jahre, Briten normalerweise nur alle sieben Jahre. Der Reichstag wählte zwar nicht die Regierung, war aber praktisch so mächtig wie andere Parlamente. Anderson entdeckte in zehn Jahren Forschung bis in Lokalblätter hinein in Deutschland eine höhere Wahl- und politische Kultur als anderswo: Kaum Gewalt, Betrug und Bestechung, die man noch nach 1945 in den USA beklagte, jedoch, wie überall, Druck von Mächtigen in Wirtschaft und Verwaltung. Aber die Wahlprüfkommission des Reichstags annullierte nach solchen Verstößen, besonders amtlicherseits, meist die Wahl und verfügte eine Neuwahl. Bestechung von Kommunen durch sachlich nicht gebotene Investitionen, wie in Frankreich üblich, „verletzte das deutsche Gefühl für Anstand“ und scheiterte am Rechtsbewusstsein der Beamten.

Weil der „Obrigkeitsstaat“ vor allem Rechtsstaat war, schützte er die Wähler besser als andere Staaten. Im Reich waren Wahlanfechtungen staatlich und kostenlos, in England teure Privatsache; in den USA sind sie noch heute schwierig. Die Bürger bestanden mit Zivilcourage auf ihren Rechten und bildeten eher als anderswo starke Parteien, die Halt und echte Alternativen boten – und Beobachter für ordnungsgemäße Wahlen. Ergriff der bejubelte letzte Kaiser Partei, gewann die Opposition. So wurden Zentrum und Sozialisten während des Kulturkampfes und der Sozialistengesetze immer stärker.

Jeder Abgeordnete war gemäß Verfassung Vertreter des ganzen Volkes. Auch ein Mitglied der bis 1890 praktisch verbotenen Sozialistischen Arbeiterpartei konnte sich zur Wahl stellen. Er konnte in der vierwöchigen Wahl(kampf)zeit, oft verlängert durch Stich- und Nachwahlen, alle sonst verbotenen Schriften im Wahlkampf verbreiten und Wahlveranstaltungen durchführen. Polizeiliche Verstöße wurden schnell korrigiert. Der Reichstag hob durch einfaches Votum vorherige Verhaftungen und Gerichtsverfahren für die Wahlperiode auf. Es gab Fairness: So sammelten bürgerliche Progressive große Summen für Familien von Sozialisten, die Hamburg aufgrund der Sozialistengesetze ausgewiesen hatte; Zentrumsabgeordnete waren Strafverteidiger für Sozialisten.

In Wahlversammlungen wählten die Anwesenden den Vorsitzenden; waren die Gegner in der Mehrheit, konnte es auch einer der ihren sein. Nach dem Hauptredner kam immer eine andere Partei durch einen „Diskussionsredner“ mindestens 30 Minuten zu Wort.

Andersons Buch gilt in den USA als akademisches Standardwerk zur Geschichte des deutschen Kaiserreichs. So sah es auch die „Historische Zeitschrift“ („ein Muss“) und forderte eine Übersetzung. Diese gibt die lebensnahe, anekdotenreiche Schilderung der unterschiedlichen politischen Gegebenheiten in den Bundesstaaten originalgetreu wieder.   

Die „Lehrjahre der Demokratie“ bieten gute Lehren für die heutige politische Praxis und unser Geschichtsbild.    Manfred Backerra

Margaret Lavinia Anderson: „Lehrjahre der Demokratie – Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich“, Franz Steiner Verlag Stuttgart 2009, gebunden, 562 Seiten, 29,90 Euro


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