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19.12.09 / Besuch bei einem »begradigten« Volk / Melancholischer Roman über die Veränderung Tibets unter chinesischer Präsenz

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51-09 vom 19. Dezember 2009

Besuch bei einem »begradigten« Volk
Melancholischer Roman über die Veränderung Tibets unter chinesischer Präsenz

Selten lädt eine Geschichte so sehr zum Träumen ein. Der chinesische Autor Alai besitzt die Gabe, bereits auf den ersten Seiten seines Buches „Fremde Quellen“ den Leser in ein weitentlegenes Land zu entführen. Er lässt ihn die Natur Tibets hautnah durch die Augen seines Ich-Erzählers erleben.

Als Kind freundet sich der schüchterne, in sich gekehrte Alai mit dem aufgrund seiner Schuppenflechte aus dem Dorf verstoßenen Hirten Gongba an. Dieser erzählt ihm vom früheren Leben seines Volkes und von seinem großen Traum, die fernen Quellen im Grasland zu besuchen, deren heilende Wirkung ihm ein neues Leben verschaffen könnte. Immer wieder spricht Gongba von der Schönheit der Quellen und von dem geschäftigen, fröhlichen Leben, welches sich dort abspielt. Er erzählt von vielen nackten Frauen und Männern, die dort gemeinsam baden und von den Marktständen an dem Naturwunder. Für den kleinen Jungen ist es zunächst unverständlich, kennt er doch nur die eingeengte, von chinesischer Propaganda bestimmte Lebensweise, für die unbeschwertes Treiben undenkbar ist. Alai lässt sich jedoch schnell von dem Zauber der Erzählungen einfangen und beschließt, mit Gongba zu dem viel gepriesenen Ort zu reisen und eine neue aufregende Welt zu entdecken.

Bevor beide aufbrechen können, stirbt der Hirte und die Quellen werden für Alai zum Symbol der unerreichbaren Ferne und der Freiheit. Erst viel später, als er bereits eine Stellung als Fotograf der Regierung annimmt, hat er die Möglichkeit, Gongbas Traum zu erfüllen und die Quellen zu sehen. Groß ist seine Enttäuschung als er zwar diese findet, aber deren Magie für ihn verschwunden ist. Alai hat von einem Ort voller Leben, Tanz und Gesang geträumt, von nackten Menschen, die gemeinsam baden. Die Quellen sind jedoch verweist, er sitzt einsam am Rande. Entzaubert macht er sich auf die Suche nach dem längst Verlorengegangenen und Vergessenen.

Es ist ein relativ dünnes Buch, keine 160 Seiten sind notwendig, um die Geschichte des tibetischen Jungen Alai zu erzählen, die so leicht ein doch so schwerwiegendes Thema bearbeitet. Das Buch beschreibt die Veränderung in Tibets Natur und der Lebensweise seiner Bewohner, einem stolzen Reitervolk, dass noch bis vor einigen Jahren auf Pferderücken die Gegend durchstreifte. Mittlerweile ist diese Freiheit, in die Ferne zu reisen, sehr eingeschränkt. Man versucht, die Menschen an einem Ort zu halten. Die Kinder, so wie Alai, können nur von wehmütigen Erzählungen erfahren, wie deren Leben früher war, denn sie kennen nicht mehr das Bedürfnis nach Freiheit.

„Wenn ein Pferd zu lange gefesselt war, läuft es nie mehr frei wie der Wind, auch wenn man ihm die Fessel löst“, so beschreibt Alai in leisen, melancholischen Tönen die neue Realität Tibets. Nicht nur, dass die Kultur schonungslos, angeblich zum Wohle der Menschen, unterdrückt wird, auch die Naturschätze der Region werden durch fragwürdige Projekte zerstört.

Am Rande wird die Präsenz der Chinesen erwähnt, die das traditionelle Leben der Tibeter als rückständig verurteilen und die Leichtigkeit der Kultur nach und nach zerstören. Das Buch erzählt nicht von gewaltsamen Aufständen, es erwähnt auch nicht die massive Unterdrückung der Tibeter durch das chinesische Regime. Der Roman ist ein Werk der leisen Töne. Es beschreibt anhand von unter die Haut gehenden Bildern, wie ein Volk „begradigt“ wird, es beschreibt wie man ihm die Freude durch den vermeintlichen chinesischen Fortschritt raubt. Es ist aber auch ein Roman zum Träumen, denn es beschreibt nicht nur Tibet, es beschreibt auch unsere Sehnsucht nach der Ferne, dem Unbekannten, dem Anderen, die nur noch in unseren Erzählungen existiert.       Anna Gaul

Alai: „Ferne Quellen“, Unionsverlag, München 2009, gebunden, 153 Seiten, 14,90 Euro


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