29.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
26.12.09 / Erste Liebe in eisiger Nacht

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 52-09 vom 26. Dezember 2009

Erste Liebe in eisiger Nacht

Tilsit 1943: Leichter Schneefall bedeckte Weg und Steg am 20. Dezember, als der Soldat Joachim Schimkoweit, der am 11. Dezember 22 Jahre alt geworden war, zum Heimaturlaub nach Tilsit kam. Sein Herz jubelte: Endlich frei ... endlich Urlaub von dem Schlamassel da draußen. Er sah auf die Auslagen der verschiedenen Schaufenster. Vereinzelt gab es da noch nette Kleinigkeiten zu kaufen. Selbst Stoffe auf Kleiderkarte. Das alles, sagte sich Joachim, hat Zeit. Zuerst zur Mutter. Und das war ein Wiedersehen, das es nicht alle Tage gab.

Mutter Anna drehte sich um ihre eigene Achse, wusste vor freudiger Überraschung gar nicht, ob sie als erstes eine Kerze auf den Tisch stellen oder schnell eine Tasse Kaffee aufbrühen sollte. Da sie in einer gut verschließbaren Dose immer noch Reste aufbewahrt hatte, holte sie die Mühle, mahlte den Kaffee und der Duft durchzog den Raum, dabei sagte sie: „Mein Jungchen, ich kann es immer noch nicht glauben, dass wir dieses Weihnachten endlich einmal gemeinsam feiern dürfen.“ „Muttchen, ich hoffe nur, dass ich nicht frühzeitig abgerufen werde.“ „Jungchen, das darf nicht sein! Sag so etwas nicht!“ „Muttchen, du erlaubst doch, dass ich einen Spaziergang zur Deutschen Ordenskirche mache?“ „Ja, mein Junge, den Wunsch kann ich dir ja wohl nicht abschlagen, ich hoffe nur, dass du bald wiederkommst. Ich habe noch eine Überraschung für dich ...“

Joachim stutze, als er an der Kirche vorbeigehen wollte. Da ertönte plötzlich ein glockenheller Sopran, der aus dem Gotteshaus kam. Ja, war das möglich, fragte sich Joachim. Hier in der Kirche ein Kinderlied zu singen? Weihnachten stand vor der Tür, man sollte Weihnachtslieder singen! Und wer war die Sängerin? Wem gehörte diese wunderbare Stimme? Wie er dann erfuhr, war es die Sängerin Leni zu Dreele, geborene Flender, die Sängerin des Königsberger Rundfunks, die Abend für Abend das Kinderlied „Schlafe mein Prinzchen schlaf ein“ im Königsberger Rundfunk sang. Der Soldat Joachim Schimkoweit wischte sich von den Augen und der Stirn leichte Flocken weg, die ihm ununterbrochen ins Gesicht flogen. Hatte nicht die Mutter dieses wunderbare Kinderlied früher an seinem Bett gesungen? Komisch, in die Kirche gehören doch eigentlich Choräle, aber kein Schlaflied ... Die Glocken hörten auf zu läuten, und der Schneefall artete zu einem Gestöber aus. Die Flocken bedeckten mittlerweile die dünne Eisschicht vor dem Kirchplatz.

Joachim öffnete die Kirchentür, ging hinein und hörte eine Vorweihnachtsandacht von Pastor Niederstrasser. Ihm war es gegeben durch die Weihnachtsbotschaft Herzen anzurühren. Leni zu Dreele sang abschließend den letzten Vers eines Adventsliedes: „Mein Herze geht in Sprüngen und kann nicht traurig sein ...“ Joachim glaubte, dass ihre Stimme einen Bruch bekäme. Sehen konnte er es nicht, wie sich aus ihren Augen Tränen stahlen und bis zu ihrem Halse liefen, als sie weiter sang: „Die Sonne, die mir lachet ist mein Jesus Christ ...“ Kein Wunder, Lenis Vater, der treue Mitarbeiter des Pastors, der Prediger Karl Flender, war im KZ.

Joachim verließ als erster die Kirche. Ihm folgte Hannelore Wiemar. Dunkel und glatt war es draußen geworden. Hannelore rutschte aus und fiel der Länge nach hin. Joachim hörte den leisen Aufprall und kam ihr zu Hilfe. Während er sie aufhob, rutschte sie wieder aus. Von hinten griff er ihr unter die Arme und brachte sie zum Stehen. Sie bedankte sich mit einem scheuen Blick und dachte an ihr letztes Paar Strümpfe, das sie trug, ob es wohl heil geblieben war.

„Entschuldigen Sie bitte, ich bin Hannelore Wiemar. Meine Mutter nennt mich Lore.“ Joachim stellte sich ebenfalls vor. „Erlauben Sie, dass ich Sie begleite?“ Lore hatte sich bei Joachim eingehakt. Ihr Weg führte sie auf die Königin-Luise-Brücke. Joachim wollte ihr von General Fletscher erzählen, der die Brücke durch besondere Tapferkeit im Ersten Weltkrieg gerettet hatte. Lore hielt ihm die Hand vor den Mund, zog sie aber schnell zurück und sagte: „Joachim, lass uns die augenblickliche Romantik festhalten. Sie wird nie wiederkommen, wie auch unsere Jugend nicht wiederkommt. Sie ist wie der eisige Wind von gestern.“

Lore vergaß ihre Strümpfe. Sie empfand nur noch wärmende Liebe, die sie festhalten wollte. Joachim sagte: „Liebe wächst auch inmitten der Eiszeit, falls man sie wachsen lässt ... Wir sollten in die Zukunft sehen, Lore, auch wenn diese fürchterlich sein wird!“ „Ich beginne zu lernen, Joachim. Ich erwarte nichts von dem, was noch geschehen wird. Fast habe ich das Gefühl, dass wir zu einfältig und blind sind.“ Anstatt eine Antwort zu geben, nahm er sie in den Arm und küsste sie. „Wir wissen nicht, was uns die Zukunft bringt, Lore, doch trotzdem fühle ich mich mit dir verbunden für Zeit und Ewigkeit.“

Heute war „ihr“ Tag, kein Hochzeitstag, aber eine stille Verlobung aus der tiefen Liebe zweier Menschen geboren, die von Gott ausgeht und die des Wachstums bedarf, obwohl sie einander ja kaum kannten. Das alles in der fürchterlichen Kriegszeit. Beide dachten nicht daran, was ihre Mütter daheim sagen würden. Mütter haben schließlich Augen für das Glück ihrer Kinder. Eva Kobs-Grommeck


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren