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26.12.09 / Rückzug ins Private / DDR-Alltagsgeschichten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 52-09 vom 26. Dezember 2009

Rückzug ins Private
DDR-Alltagsgeschichten

Im Berliner DDR-Museum lebt die Alltagskultur eines seit fast 20 Jahren verschwundenen Staates wieder auf. Die Besucher können sich in einen Trabant setzen, in Küchenschränken nach Mitropa-Geschirr stöbern, im Wohnzimmer Eduard Schnitzlers Schwarzen Kanal sehen oder im Kleiderschrank ein Hemd der Jung-Pioniere herausnehmen. Um alle Ausstellungsstücke ranken sich Geschichten – Geschichten, wie sie Jutta Voigt in ihrem neuen Buch „Im Osten geht die Sonne auf“ erzählt. Es enthält eine Sammlung ihrer Kolumnen, die sie seit Anfang der 1980er Jahre für die DDR-Kulturwochenzeitung „Sonntag“ schrieb und in den 1990er Jahren im gesamtdeutschen Nachfolgeblatt „Freitag“ fortführte.

Im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen steht das „ganz normale Leben“ zur Endzeit der DDR und zur Anfangszeit der neuen Bundesländer. Die Ost-Berliner Journalistin zeigt den Dämmerzustand einer Gesellschaft, die sich immer mehr ins Private zurückgezogen hatte. Ihre Anekdoten und Reportagen handeln vom Besuch beim Friseur, lautstarken Hinterhofgespräche aus dem Fenster, von Grillfesten in Kleingartenanlagen oder dem Kurbetrieb in einer Thüringer Kleinstadt. Unter dem Motto „Szenen aus dem untergegangenen Land“ wirken diese Episoden heute geradezu anheimelnd.

Doch während die damaligen Leser Voigts Kolumnen als realitätsnah empfanden, lehnten die Funktionäre sie als subversiv ab – zumal das Wort Sozialismus fast nie darin auftauchte. Von dem hatte sich die studierte Philosophin spätestens seit den 1970er Jahren distanziert. Zu groß erschienen ihr die Widersprüche. Für wie gefährlich andere ihre Texte hielten, schildert die heute 65-Jährige in einem Interview. Vor der Wende kam ein junger Monteur zu ihr in die Wohnung, um einen Gamat-Heizkörper zu installieren. Nach einer halben Stunde fragte er die Autorin: „Sind Sie die Jutta Voigt, die im ,Sonntag‘ schreibt?“ „Ja, die bin ich“, antwortete sie verblüfft. Daraufhin flüsterte der Monteur erleichtert: „Immer, wenn ich drei Wochen lang nichts von Ihnen lese, denke ich: Jetzt hamse sie, jetzt hamse sie.“

Dann fiel die Mauer und die Journalistin brauchte nicht länger die Argusaugen der Stasi zu fürchten. Mit einem Schlag veränderte sich das Leben der ehemaligen DDR-Bürger, die kaum Schritt halten konnten mit der gesellschaftspolitischen Entwicklung im Zeitraffer und oft hilflos oder frustriert reagierten. In ihren Feuilletons hält Voigt fortan den Finger am Puls der ehemaligen DDR-Bürger. Sie spricht mit den Menschen auf der Straße von der Boutiqueverkäuferin über den Schallplattenhändler bis hin zum Obdachlosen. Dabei erhebt sie nie den moralischen Zeigefinger, sondern schreibt vorurteilslos, sachkundig und manchmal auch ironisch. Gerade jungen Lesern, die das geteilte Deutschland nur noch aus den Erzählungen ihrer Eltern und Lehrer kennen, bringen die Geschichten ein Stück fremden Zeitgefühls näher.         S. E. Gerber

Jutta Voigt: „Im Osten geht die Sonne auf“, Bebra Verlag, Berlin 2009, geb., 223 Seiten, 16,90 Euro


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