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09.01.10 / Postsowjetische Misswirtschaft / Die russische Landwirtschaft ist seit langem in einem trostlose Zustand - Regierung wirkt ratlos

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 01-10 vom 09. Januar 2010

Postsowjetische Misswirtschaft
Die russische Landwirtschaft ist seit langem in einem trostlose Zustand - Regierung wirkt ratlos

Russland kann nur gut die Hälfte seines Bedarfes an Agrarprodukten selber decken. Die Wunden der sozialistischen Landwirtschaftspolitik sind bis heute nicht verheilt: Zehn Prozent aller Dörfer sind entvölkert, 40 Prozent der Ernte gehen verloren und Besserung ist nicht in Sicht.

Wie ein Garten Eden zeigte sich 1770 das Russische Imperium deutschen Geographen: Reichtum, ja Überfluss an Getreide, blühend Ackerbau und Viehzucht, fischreiche Flüsse, Wälder voller Wild, wohlfeile Nahrung für alle. Die heutige Russische Föderation kann davon nur träumen, da sie Dutzende Millionen Hektar Ackerland durch „barbarischen Raubbau“ verlor, so die Agrarexpertin Ljudmila Orlowa. Zudem hat Russland rund 60 Prozent seines Viehbestands eingebüßt. Gestiegen ist allein der Nahrungsmittelbedarf der derzeit 142 Millionen Einwohner, den die heimische Industrie 2007 nur zu 55 Prozent decken konnte. Wie Agrarministerin Elena Skrynnik vorrechnete, wurden 2009 9,14 Millionen Tonnen Fleisch konsumiert, jedoch nur 6,7 Millionen produziert. Ähnlich sieht es bei Milch und anderen Gütern aus. Die Lücken füllen Importgüter, die Russland alljährlich so viel Geld kosten, wie ihm der Gashandel mit Westeuropa einbringt.

Dazu rügte Orlowa: „Die Importkosten sind auch unterlassene Investitionen in die eigene Agroindustrie.“ Diese wurden seit Jahrzehnten vernachlässigt, wie das Erbübel der Ernteverluste ausweist: Durch verseuchtes Saatgut, Schädlinge auf den Feldern, veraltete Maschinen und brüchige Lagerhallen gehen alljährlich zwischen 30 (Getreide) und 50 Prozent (Kartoffeln) der Feldfrüchte verloren, bevor sie die Geschäfte erreichen.

Russlands Landwirtschaft ist von über 80 Jahren kommunistischer Dorfverwüstung geschlagen. Raub von Getreide und Saatgut nach der Revolution, Hungersnöte, Zwangskollektivierung und politisch motivierter „Hungermord“ in den 1930ern, gescheiterte „Neulandkampagne“ in den 1950ern, bis 1960 Erntekatastrophen dank der „Sowjetgenetik“ des Scharlatans Trofim Lysenko, jahrzehntelange Hörigkeit der Bauern wegen vorenthaltener Personalpapiere sind hier die wichtigsten Stichworte.

Im postkommunistischen Russland haben die Bauern wieder Pässe, mit denen sie vom Land flüchten können. 2009 waren zehn Prozent aller ländlichen Siedlungen entvölkert. Die Löhne in der Landwirtschaft liegen bei 41 Prozent des Landesdurchschnitts, das Gros der 39 Millionen russischen Armen, die mit umgerechnet 13 bis 25 Euro im Monat auskommen müssen, lebt auf dem Land. Städte sind übervölkert, die Arbeitslosigkeit lag 2009 bei 9,3 Prozent, aber in Dörfern fehlen Millionen Arbeitskräfte, 52 Prozent der Betriebe sind unrentabel.

Nominell ist der Agrarsektor seit 1990 auf marktwirtschaftlichem Reformkurs, aber real hat sich außer Türschildern wenig geändert: 89 Prozent der sowjetischen Kolchosen wurden Aktiengesellschaften und Genossenschaften, die der Staat nach wie vor über Steuern, Kredite und verweigertes Eigentum an Grund und Boden an kurzer Leine hält. Um Bodenspekulation zu verhindern, so die offizielle Begründung, gibt es keinen Privatbesitz an Boden, was dem Staat Milliarden durch Pacht einbringt. Immer mehr Bauern weichen auf „Persönliche Nebenwirtschaft“ aus – die Hofgrundstücke von einem Hektar sind rentabel.

Russlands Bruttoinlandsprodukt ist im ersten Halbjahr 2009 um 10,5 Prozent gefallen. 2010 erwartet man ein Wachstum von 2,4 Prozent. Das alte Zaubermittel Ölexport zieht nicht mehr, da man die Förderung bis 2012 auf 483, Exporte auf 240 Millionen Tonnen zurückfahren muss. In der Landwirtschaft greift man auf den „Agroindustriellen Komplex“ der Breschnew-Zeit zurück, der 2009 bewirken sollte, woran er 1970 scheiterte: Die ganze Landwirtschaft und Agroindustrie in zehn Großregionen zu vereinen und zu dirigieren. Ähnlich museal mutet die „Doktrin der Nahrungsmittelsicherheit der Russischen Föderation“ an, die 1997 Präsident Jelzin verwarf, Nachfolger Dmitrij Medwedjew aber „reanimierte“ und zu Jahresende 2009 per „Ukas“ verfügte.

Agrarautarkie als Teil nationaler Sicherheit ist auch Premier Wladimir Putins Obsession. 2008 begann er den „Kampf gegen Fleischimporte“, für die Jahre 2010 bis 2012 verfügte er „Importquoten“ von maximal 15 Prozent. Das Ziel: Die US-Exporteure sollen leiden, die GUS-Staaten, für die die Quoten nicht gelten, wieder stärker an Russland gebunden werden. Die Russen müssen sich auf magere Jahre vorbereiten.

Der Wirtschaftsexperte Wladimir Reschetnjak hält die Doktrin für „Nonsens“, was gewiss zutreffend ist, aber die Regierung nicht beeindrucken wird. Sie will vom grünen Tisch aus Importe gewaltsam senken. Bis 2020 soll die „vaterländische“ Landwirtschaft 95 Prozent des Bedarfs an Getreide und Kartoffeln erzeugen, 90 der Milch, 85 des Fleisches und 80 des Zuckers. Eine marktorientierte Landwirtschaft könnte das schaffen, wovon sich die russische aber immer weiter entfernt. Die Regierung hat kein Geld für ländliche Infrastruktur und Aufkäufe von Agrarprodukten. Banken fehlen Mittel für Kredite an die Landwirtschaft. Russen leiden schweigend: 80 Prozent sparen am Essen, 20 bis 50 Prozent von ihnen essen weniger Gemüse, Fleisch und Fisch als ärztlich empfohlen.

Wer Russlands agrarischen Niedergang mit seinen Gebietsverlusten zu erklären versucht, findet auch hier keine Antworten: Vor dem Ersten Weltkrieg, als Russland seine größten Ausmaße hatte, maß es zwar 21,8 Millionen Quadratkilometer, die heutige Russische Föderation dagegen „nur“ 17 Millionen. Doch generell hat die territoriale Größe nur wenig mit der Agrarproduktion zu tun. Relativ kleine Gebiete wie die bulgarische Dobrudscha oder die serbische Vojvodina haben in guten Jahren große Teile Südosteuropas versorgt. Russland hat – zumindest absolut gesehen – enorm viel Ackerland, geht mit diesem aber sehr schlampig um und erntet deshalb, so Ljumila Orlowa, 1,5 bis viermal weniger Kulturpflanzen als vergleichbare Länder. Wolf Oschlies

Foto: Von oben verordnet: Putin verlangt, dass Russland ab 2020 85 Prozent seines Fleischbedarfes deckt. Bild: AP


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