Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 02-10 vom 16. Januar 2010
Großvaters Spieluhr Ich kann mich gut erinnern, obwohl ich damals noch ein Dreikäsehoch war. Sie hatte ihren Platz auf Großvaters stattlichem Stehpult in Großmutters sogenannter „guter Stube“: Großvaters Spieluhr. Es war ein Kästchen, nicht hoch, aber dafür etwas breiter, mit kleinen Blumenmotiven verziert und auf vier winzigen Füßchen stehend. Großvater war längst verstorben. Öffnete Großmutter mal die Tür zur „guten Stube“, was leider allzu selten geschah, wurde es für uns Kinder ganz feierlich. Großmutter ging dann zum Stehpult, nahm einen Schlüssel hervor und zog die Spieluhr auf. Dann spielte die Uhr das Lied „Üb immer Treu und Redlichkeit“. Unsere Augen strahlten dabei. Mir roten Wangen lauschten wir andächtig Großmutters Geschichte, wie Großvater zu der Spieluhr gekommen war. Als Junge bekam er sie von einem Nachbarn geschenkt, als er dessen Kuh aus dem brennenden Stall gerettet hatte. Immer hörten wir mucksmäuschenstill zu, als hörten wir Lied und Geschichte zum ersten Mal. Die Spieluhr war gewiss damals schon ein altes Ding, das manchmal etwas krächzte und streikte. Doch ein zarter Klaps von Großmutters Hand brachte das Werk wieder in Gang. Auch Großmutter war inzwischen, hochbetagt, längst verstorben. Großvaters Spieluhr aber bekam ich zugesprochen. Seither steht sie bei mir im Wohnzimmer und hat im großen Eichenschrank ihren Ehrenplatz bekommen. Noch oft ziehe ich sie auf und lausche der zart klimpernden Mozart-Melodie. Doch eines Nachts wurde mein Haus von Dieben heimgesucht. Es war natürlich töricht von mir gewesen, das Fenster zum Arbeitszimmer offen zu lassen. Dadurch hatten die Diebe leichtes Spiel, um ins Wohnzimmer zu gelangen. Nach dem ersten Schrecken zog ich Bilanz, was den nächtlichen Besuchern alles in die Hände gefallen sein könnte. Gottlob – es war meist nur belangloser Krimskrams gewesen. Doch dann erschrak ich sehr: Großvaters Spieluhr war nicht mehr da! Eine grenzenlose Wut packte mich. Und dann überfiel mich eine tiefe Traurigkeit, wo doch gerade Großvaters Spieluhr so viele Kindheitserinnerungen in mir wach hielt. Erinnerungen an all die feierlichen Augenblicke in Großmutters „guter Stube“. Welche Gedanken würden den Dieb wohl beschäftigen, wenn er die uhr aufzöge und asugerechnet dieses Lied hörte? Am anderen Morgen holte ich die Zeitung aus der Zeitungsbox. Ich staunte, als auch altes Zeitungspapier in der Box steckte. Ein Gegenstand schien damit eingewickelt zu sein. Es war Großvaters Spieluhr! Meine Freude war groß, als ich laut vor mich hin sagte: „Der Dieb muss das Lied also doch gehört haben.“ Üb’ immer Treu und Redlichkeit Werner Hassler |
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