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23.01.10 / Bilder im Text / Letzte Tage der DDR aus Sicht eines Kameramannes

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 03-10 vom 23. Januar 2010

Bilder im Text
Letzte Tage der DDR aus Sicht eines Kameramannes

Schlägt man dieses Buch auf, erwartet man Bilder, zumal ein Mensch mit Glatze, Brille und Makroobjektiv vom Buchcover auf uns schaut, aber man sieht keine. Liest man aber den Text, da kommen die Bilder zum Vorschein. Dem Kameramann Kai von Westermann ist es gelungen, „die Bilder sprechen zu lassen“. Das macht aus diesem Buch ein Unikum. Ein Bilderbuch ohne Bilder.

Ehrlich, so etwas hat der Rezensent in der Moderne noch nicht erlebt. Zur Zeit Goethes oder Balzacs, als es weder Filmkameras noch Fotoapparate gab und nur der Pinsel des Malers Menschen, Tiere und Landschaften wiedergeben konnte, bemühten sich die Schriftsteller, die Szenen detailgetreu zu beschreiben, „damit man sich ein Bild davon machen“ kann. Aber bei diesem Buch geht es um etwas anderes. Der Autor schreibt, wie er sieht. Die kurzen Kapitel, selbst in Handlungen, Begegnungen, Schritte unterteilt, sind nichts anderes als Momentaufnahmen. Einzelheiten sind dabei, Bewegungen und Farben. Es ist moderne Fotografie.

Der Verfasser kann uns historisches Geschehen gewaltigen Ausmaßes bildlich erfassen lassen. So erfahren wir, dass sein Vater einen weißen Fleck auf der einen Seite seines Armes und denselben Fleck auf der anderen Seite hat: Eine russische Kugel hatte seinen Arm durchlöchert. Krieg, Kugelhagel, Überleben werden präsent, zumal der Vater, ein Berufsoffizier im Rang eines Generals in der Bundeswehr, erzählt, dass er beim Einmarsch in Russland an der vordersten Front und beim Rückzug in der letzten Nachhut war. Vor ihm und hinter ihm „nur Russen“, sagte er lakonisch. Damit ist alles gesagt. 

Trotz der Segmentierung in optischen Schnellschüssen liest sich die Erzählung, teilweise autobiographisch mit Familienhintergrund und Lehrjahren, zuletzt in der Fachschule für Optik und Fototechnik in Berlin, wie ein Roman. Wie ein Abenteuerroman, denn die Jahre der gefährlichen Teilung Deutschlands und des Kalten Krieges, die im Mittelpunkt des Buches stehen, waren spannend und gefährlich. Heute würde man sich in Berlin langweilen, gäbe es nicht so viele Feste. Der Autor ist damals als „homo videns“, als Sehender, viele Male auf Augenhöhe mit dem „Gegner“ im kommunistischen Machtbereich. Durchfahrt durch die DDR mit Bahn und mit Auto, Konfrontation an der innerdeutschen Grenze als Soldat, Leipziger Messe, Berlin Ost, alles erinnert an jene Zeit vor dem Fall der Berliner Mauer, als man anders lebte, fühlte und sprach. Akribisch hat er Fakten und Vokabular gesammelt. Man trifft auf die „Zone“, auf „Backfische“ und auf „Resopal“. Weiß die Jugend heute noch, was das ist? Ein Hauch von Nostalgie…

Dann kommt Bertrand, der französische Kameramann, ich-bezogen und unpünktlich, wie Franzosen eben sind, aber couragiert bis tollkühn. Für ihn hält Kai von Westermann die Kamera noch im „real existierenden Sozialismus“ und danach im „zerbröckelnden Sozialismus“ der DDR-Revolution. Die Kameraleute haben in diesem friedlichen Aufstand in der DDR eine zentrale Rolle gespielt. Ohne die herausgeschmuggelten Filme, die im Westfernsehen ausgestrahlt wurden, hätte das Regime vielleicht nicht so schnell nachgegeben, die Menschen drüben wären nicht so schnell mobil geworden.
            Jean-Paul Picaper

Kai von Westermann: „Letzte Bilder von der Mauer“, Zeitgut Verlag, Berlin 2009, 363 Seiten, 12,90 Euro


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