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23.01.10 / Das wahre Leben vorgegaukelt / Laiendarsteller statt Betroffene in »Doku-Soaps« – Ein Drehbuch bestimmt die Wirklichkeit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 03-10 vom 23. Januar 2010

Das wahre Leben vorgegaukelt
Laiendarsteller statt Betroffene in »Doku-Soaps« – Ein Drehbuch bestimmt die Wirklichkeit

Sie tragen reißerische Titel wie „Raus aus den Schulden“, „Mitten im Leben“, „Frauentausch“ oder „Familien im Brennpunkt“ erreichen rund 20 Prozent der Zielgruppe. Doch schildern die so genannten Doku-Soaps tatsächlich das wahre Leben?

Die Mutter blickt übertrieben ernst zu ihren beinahe volljährigen Kindern, die neben ihr auf der Küchenbank sitzen. Die etwa 40-jährige Frau zieht eine leichte Fluntsch, versucht einen Dackelblick und setzt zum Geständnis an: Ja also, sie müsse ihnen sagen, dass sie damals, bevor sie Mutter wurde, als Prostituierte gearbeitet habe. Beide Kinder zucken zurück, Entsetzen steht in ihren Gesichtern, die Kamera zoomt auf die Tochter, deren Gesichtszüge plötzlich weich werden. Dann umarmt sie ihre Mutter: „Aber Mama, wir haben dich trotzdem lieb.“ Der Sohn schließt sich der Umarmung an. So endet eine Szene bei „We are family – So lebt Deutschland“ auf Pro7. Wer jetzt umschaltet und zu Sat1 oder RTL wechselt, bekommt Ähnliches geboten. „Richterin Barbara Salesch“ oder „Familien im Brennpunkt“ flimmern dort über den Bildschirm. „Familien im Brennpunkt“ ist eine mit Laiendarstellern nach Drehbuch produzierte Pseudo-Dokumentation, neudeutsch auch Doku-Soap genannt. Alle drei Sendungen haben eines gemeinsam: Sie gaukeln wirkliches Leben vor.

„Die Entwicklung verläuft parallel zum Court-TV, wo erst echte Fälle bei Barbara Salesch behandelt wurden, bevor man zum ,scripted content‘ [Drehbuch] mit Laiendarstellern überging“, so Professor Joan Kristin Bleicher vom Institut für Medien und Kommunikation der Universität Hamburg gegenüber der PAZ. „Damit soll die quotenwirksame Dramaturgie der Formate sichergestellt werden. Im Abspann wird auf die Drehbuchvorlagen hingewiesen und auch die Bezeichnung Doku-Soap verweist auf die Nähe zum Fiktionalen.“
Da also das wahre Leben nicht mehr genügend „quotenwirksame Dramaturgie“, sprich Streit, Lügen, Sex, Kriminalität und ähnliches, bietet, wird per Drehbuch nachgeholfen. Bei einigen Formaten erkennt der aufmerksame Zuschauer von allein, dass das Präsentierte nicht „echt“ sein kann, da die Laiendarsteller zu schlecht oder die Handlung zu abstrus ist. Aber bei manchen Formaten ist der Übergang von Fakten zur Fiktion fließend. Wer kann sagen, ob die Reaktionen der Protagonisten selbst bei etablierten Formaten wie „Raus aus den Schulden“ mit Peter Zwegat, „Frauentausch“ oder „Die Super Nanny“ wirklich immer spontan so waren oder ob der Regisseur die eine oder andere Szene wiederholt sehen wollte. „Drama, Baby, Drama!“ dürfte eine Forderung sein, die nicht nur dem Ex-Juror von „Germanys next Topmodel“, Bruce Darnell, regelmäßig über die Lippen gekommen sein dürfte. Wobei „Bauer sucht Frau“ immerhin vor kurzem negative Schlagzeilen erhielt, als herauskam, dass einige Fälle nicht real waren, so unter anderem der eine Bauer gar kein Bauer und der Hof nicht sein Hof war.

Und selbst bei Formaten, bei denen im Abspann „Alle handelnden Personen sind frei erfunden“ steht, bedeutet es nicht, dass der Zuschauer dieses Eingeständnis auch wahrnimmt. Da die große Masse der Zuschauer – die Sendungen erreichen zwischen zehn und 20 Prozent Marktanteil in der werberelevanten Gruppe der 14- bis 49-Jährigen – nicht zu den aufmerksamen Fernsehkonsumenten gehört, wäre es durchaus interessant zu erfahren, welche Auswirkungen diese Doku-Soaps auf sie haben. Die PAZ hat bei mehreren Instituten und Universitäten, die sich mit Medienverhalten und Medienkonsum befassen, nachgefragt, aber bisher wurde offenbar noch nicht erforscht, inwieweit die Zuschauer Doku-Soaps für „echt“ halten und die dort gesehene Darstellung des „echten“ Lebens auf ihren Alltag übertragen. Das ganze Genre sei „degeneriert. Wie bei einer Droge musste die Dosis immer mehr gesteigert werden“, klagte die Laiendarstellervermittlerin Imke Arntjen unlängst im „Spiegel“. Da es pro Woche etwa 60 verschiedene Formate dieser Art im deutschen Fernsehen gibt, leiden die Fernsehmacher zudem darunter, dass es immer weniger Freiwillige gibt, die ihr Leben im Fernsehen zur Schau stellen wollen.

„Deutschland ist durchgecastet“, lautet das Fazit von Imke Arntjen, so dass auch aufgrund von Personalproblemen RTL, SAT1 und Co. nichts anderes übrigbliebe, als auf Laiendarsteller zurückzugreifen. Und da im wahren Leben selbst die dümmsten Gauner aus Angst vor dem Staatsanwalt nicht über kriminelle Aktivitäten plaudern würden, greift man zum Drehbuch. In dieser Pseudowirklichkeit kann das Fernsehteam auch die Dramaturgie bestimmen. Bei RTL nennt man das einen „erfolgreichen Tabubruch“.
Die deutsche Gesellschaft scheint das zu tolerieren, denn nirgendwo wird davor gewarnt, dass vor allem junge Menschen durch derartige Machwerke den Sinn für Realität verlieren. Während Lebensmittel, Kinofilme, Spielzeug und vieles mehr mit Warnhinweisen und Qualitätsvermerken versehen werden müssen, spielen Doku-Soaps bewusst mit einer Scheinwirklichkeit. Sie gaukeln vor, dass es normal ist, wenn Elternteile fremdgehen, man sich wüst beschimpft, lügt, sich schlägt, klaut oder schlampig ist.

Die Alternativen, welche die öffentlich-rechtlichen Sender im Nachmittagsprogramm anbieten, sind übrigens Zoogeschichten in Endlosschleife oder Telenovelas wie „Sturm der Liebe“ oder „Alisa – Folge deinem Herzen“, die für eine eher ältere und weibliche Zielgruppe produziert werden. Rebecca Bellano

Foto: Peter Zwegat hilft raus aus den Schulden: Fakten oder Fiktion?


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