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20.02.10 / Die Macht der Familienclans / Türkei: »Ehrenmord« hat andere Hintergründe

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 07-10 vom 20. Februar 2010

Die Macht der Familienclans
Türkei: »Ehrenmord« hat andere Hintergründe

Reflexartig ging der internationale Aufschrei über den vermeintlichen „Ehrenmord“ an der 16-jährigen Medine Memi aus dem osttürkischen Kahta durch die internationalen Medien. Türkische Blätter hatten nach Recherchen eines Lokalreporters schnell einen „Ehrenmord“ ausgemacht. „Weil sie mit Jungen sprach“, so lauteten die Schlagzeilen. Vater und Großvater sollen das Mädchen zur Rettung der Familienehre umgebracht und dann hinter dem Hühnerstall des Hauses vergraben haben. Ein bestialisches Verbrechen, das die Diskussion über „Ehrenmorde“ in der Türkei neu entfacht habe, heißt es.

Eine Scheindiskussion, denn hier geht es nicht um einen „Ehrenmord“: Die aktuellen Ermittlungen deuten auf andere, nicht weniger tiefe Abgründe hin. Glaubt man den Berichten aus dem Umfeld der Toten, so ging es nicht um den Kontakt mit Jungen oder eine „unzüchtige Lebensweise“, sondern um kriminelle Machenschaften in der Familie des Mädchens. Vater Ayhan und Großvater Fethi Memi sollen ihren kargen Lebensunterhalt mit Zigarettenschmuggel und krummen Geschäften aufgebessert haben. Im Haus herrschten raue Sitten, auch Medine bezog häufig Prügel, suchte mehrmals die Polizei auf. Dort versicherte man ihr, dass ihr nichts passieren könne, doch man brachte sie immer wieder nach Hause, anstatt sie in die Obhut einer Behörde zu geben. Auch in Kahta gibt es eine Frauenorganisation und eine Jugendbehörde. Doch in den dörflichen Verhältnissen der anatolischen Kleinstadt hält man zusammen.

Nachdem im Haus des Großvaters ausländische Schmuggelwaffen gefunden wurden und dieser zu einer zehnmonatigen Haftstrafe, die in eine Geldstrafe umgewandelt wurde, verurteilt wurde, verschwand das Mädchen. Es hieß, sie sei ausgerissen.

Erst die Recherchen eines Journalisten führten die Ermittler auf die Spur. Zunächst hieß es, man habe die 16-Jährige erschlagen. Doch Medine wurde mit gefesselten Händen in dem Erdloch gefunden, in Magen und Lunge fanden Gerichtsmediziner Erde. Man hatte das Mädchen lebendig begraben.

Warum hatte die örtliche Polizei das Mädchen vier Mal wieder in die Hände seiner Peiniger übergeben? Warum hatte man sich nicht ausgiebiger um die Machenschaften im Hause Memi gekümmert. Die Ehrenmorddebatte, die sich bis ins türkische Parlament zog, lenkte vom eigentlichen Übel ab.

Staatliche Behörden und Polizei haben in den südöstlichen Provinzen der Türkei nicht viel zu melden, man arrangiert sich hier und da mit den Familienclans. Medine sei nicht zur Schule gegangen, doch eine Schulpflicht gibt es auch in der Türkei. In Ankara wird nun über Frauenrechte gesprochen, das lenkt von der Notwendigkeit ab, über Bildungs- und Entwicklungspolitik für die unterentwickelten Regionen im Südosten der Türkei zu reden. Regierungschef Recep Tayyip Erdogan und seine religiös-konservative Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) profitieren von der in weiten Teilen ungebildeten Landbevölkerung. Hier findet die AKP ihre Anhänger.

Der Fall Medine ist kein Einzelfall und es ist schwer auszumachen, ob immer religiöse Gründe oder vielmehr archaische Traditionen oder kriminelle Hintergründe hinter den Gräueltaten stecken. Der türkische Staat ist auf dem Lande zu wenig präsent, oder die Repräsentanten sind zu eng in die örtlichen Verhältnisse eingebunden, um notwendige Distanz und Autorität zu wahren.        Mariano Albrecht


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