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20.03.10 / »Spitze des Eisbergs« / Dieter Frey: »Wegschauer« tragen fast so viel Schuld wie Täter

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-10 vom 20. März 2010

»Spitze des Eisbergs«
Dieter Frey: »Wegschauer« tragen fast so viel Schuld wie Täter

Dieter Frey ist Sozialpsychologe an der Universität München.

Philip Baugut sprach mit ihm über die Missbrauchsfälle und Präventionsmöglichkeiten.

PAZ: Herr Professor Frey, überrascht Sie das Ausmaß an Kindesmissbrauch, das nun ans Licht kommt?

Dieter Frey: Eigentlich bin ich überhaupt nicht überrascht. Wir wissen schon lange, dass in vielen Bereichen, unter anderem bei Kindesmissbrauch, hohe Dunkelziffern bestehen. Insofern denke ich sogar, dass wir nur die Spitze eines Eisberges sehen. Denn jeder kennt Fälle aus der weiteren Umgebung, wo zu oft wegschaut oder bei Misshandlungen verniedlicht wird.

PAZ: Wie lassen sich die Misshandlungen an Kindern sozialpsychologisch erklären?

Frey: Die Täter haben nicht ein einziges Motiv, verschiedene Motivlagen kommen zusammen. Es beginnt damit, dass viele Erzieher von der sogenannten „Laientheorie“ ausgehen. Sie glauben, dass man Menschen mit Gewalt und Züchtigung dazu bringt, Regeln einzuhalten beziehungsweise zu „funktionieren“. Wenn sich dann der andere anders als gewünscht verhält, kommt es häufiger zu Misshandlungen.

PAZ: Wie muss man sich dabei die Persönlichkeit des Täters vorstellen?

Frey: Es gibt natürlich Neigungen, auch pädophile Neigungen, die viele Erzieher oft kontrollieren können. Sie treten aber dann zum Vorschein, wenn keine negativen Sanktionen zu befürchten sind, die Gefahr der Entdeckung niedrig ist.

PAZ: Welche Strukturen begünstigen Misshandlungen?

Frey: Das Problem sind Institutionen, in denen nicht oder schlecht geführt wird, in denen die Führung wegschaut oder diese Verhaltensweisen womöglich toleriert. Insofern tragen die Beobachter oder „Wegschauer“ fast genauso viel Verantwortung wie die Täter.

PAZ: Welche präventiven Maßnahmen können Schulträger ergreifen?

Frey: Wir brauchen eine flächendeckende Ausbildung der Kinder in Zivilcourage und Selbstbehauptung. Sie sollten in die Lage gesetzt werden, Stoppsignale zu setzen, wenn ihnen die körperliche Nähe von Erwachsenen unangenehm ist, ihre Streicheleinheiten zu weit gehen. Kinder müssen in Übungen lernen, Grenzen zu setzen und zu sagen: „Das will ich nicht, das geht nicht!“ Wichtig ist dabei die Philosophie: „Mein Körper gehört mir, ich entscheide, wie weit der Gegenüber gehen darf, ich habe den Mut zu widersprechen.“

PAZ: Wo lässt sich diese Selbstbehauptung lernen?

Frey: An unserem Lehrstuhl machen wir seit Jahren solche Zivilcourage-Trainings mit Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern. Das müsste aber flächendeckend angeboten werden.

PAZ: Was können Lehrer vorbeugend tun?

Frey: Lehrer müssen sensibilisiert werden, genau hinzuschauen. Sie müssen den Mut aufbringen, die potenziellen Täter anzusprechen und gleichzeitig die Opfer zu schützen. Auch das lässt sich in Rollenspielen lernen.


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