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27.03.10 / Fernsehbrücke statt Großdemo / Königsbergs Bürger konnten ihren Politikern im TV live Fragen stellen – Immer noch viel Unmut

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 12-10 vom 27. März 2010

Fernsehbrücke statt Großdemo
Königsbergs Bürger konnten ihren Politikern im TV live Fragen stellen – Immer noch viel Unmut

Die Großdemonstration am 30. Januar dieses Jahres in Königsberg hat die russischen Politiker aufgerüttelt. In der Folge gab es eine Reihe von Gesprächen von Vertretern der Opposition mit Gebiets- und Regierungspolitikern sowie Vertretern gesellschaftlicher Organisationen einschließlich der Polizei. Auch Prominenz aus Mos­kau reiste an den Pregel. Neben einer hochrangigen Delegation aus Moskau, der auch der Sprecher der Staatsduma Boris Gryslow angehörte, waren Experten, Journalisten, Geschäftsleute und Politologen aus der Hauptstadt nach Königsberg geeilt, um Auswege aus der unruhigen Situation zu finden. Hauptort für ihre Zusammenkünfte war das Auditorium Maximum der Russischen Staatlichen Universität Immanuel Kant. Eine erneute Großdemonstration anlässlich des russlandweit organisierten „Tages der Wut“ (20. März) wollte die Stadtregierung im Zentrum nicht mehr zulassen. Auch am Hansaplatz (Siegesplatz) gegenüber der orthodoxen Christi-Erlöser-Kathedrale sollte keine Demonstration stattfinden. Die Stadtoberen hatten vorgesorgt und diese Plätze für den 20. März schon für andere Feierlichkeiten vergeben, für einen Landwirtschaftsmarkt und die Feier „Wir sind Russen“. Als Alternative für die angekündigte Protestkundgebung schlug man den Organisatoren das Stadion „Pionier“ vor, das am Stadtrand am Ende des Prospekts Mira in der Nähe des alten Stadtfriedhofs liegt. Die Opposition zerstritt sich darüber, ob unter diesen Umständen die Demo nicht eher abgesagt werden müsste. Die Kommunisten, Vertreter der Liberal-Demokratischen Partei sowie „Gerechtes Russland“-Anhänger sagten ihre Teilnahme ab. Nur Michail Tschesalin, Abgeordneter der Gebietsduma von der Partei „Patrioten Russlands“, bestand auf der Durchführung der Demonstration. Die Regierenden schlugen als Alternative eine sogenannte Fernsehbrücke vor, eine Liveschaltung von mehreren Plätzen der Stadt Königsberg und anderer Städte des nördlichen Ostpreußen zu dem zum Studio umfunktionierten Audimax der Königsberger Universität, wo sich die Verantwortlichen den Fragen der Bevölkerung stellen wollten. Die meisten Oppositionellen unterstützten diese Idee, indem sie ihre Anhänger aufforderten, statt zur Protestkundgebung zu gehen, ihre Fragen live übers Fernsehen an die Politiker zu richten. Damit die Übertragung nicht zu langweilig würde, hatte man den populären Fernsehmoderator Wladimir Solowjow eingeladen. Bereits zwei Tage vor der Liveschaltung war verstärkter Polizei- und Wachkräfteeinsatz bemerkbar. Autofahrer wurden an fast jeder größeren Kreuzung der Stadt angehalten. Vor dem 20. März warben Politiker aus Stadt und Land für den Landwirtschaftsmarkt mit ungewöhnlich niedrigen Preisen. Vor dem Haus der Räte waren bereits Tage vorher viele Verkaufsstände aufgebaut worden – offenbar wollte man „gut Wetter“ machen. Am 19. März wurde auf dem Hansaplatz eine Bühne aufgebaut, auf der Künstler auftraten. Am Morgen des 20. März besuchte Gouverneur Georgij Boos vor dem Beginn der Live-Übertragung die Landwirtschaftsausstellung. Der gesamte Platz vor dem Haus der Räte war gefüllt. Der Gouverneur und seine Begleiter nahmen ein Bad in der Menge, sprachen dabei mit den Menschen über deren Probleme und spendeten für gute Zwecke. Anschließend begab Boos sich zur Kant-Universität, um an der Fernsehübertragung teilzunehmen. Neben Regierungsmitgliedern stellten sich Abgeordnete, die Leiter politischer und bürgerlicher Organisationen, aber auch die Chefs der Stadtbetriebe (Wasserversorgung, Stromanbieter, Medizin- und Kultureinrichtungen) den Fragen der Menschen. Auf den Straßen von Königsberg, Gumbinnen, Rauschen und Tilsit waren insgesamt sieben Kamerateams unterwegs. Kurz vor Beginn der Sendung hatten akkreditierte Journalisten und selbst Oppositionelle, die als Teilnehmer geladen waren, Schwierigkeiten, die dreifachen Kontrollen zu passieren, um ins Auditorium zu gelangen. Der oppositionelle Abgeordnete Solomon Ginsburg wurde mit der Begründung aufgehalten, dass sein Name nicht auf der Liste stehe. Zu dieser Zeit trafen bereits die ersten Fragen ein. Doch als um 12 Uhr die Übertragung begann, fielen schon die ersten beiden Kameras aus. Das war erst der Anfang der technischen Probleme. Im strömenden Regen versagte die Technik, dennoch harrten die versammelten Menschen bis 16 Uhr aus, um ihre Fragen stellen zu können. Die meisten drehten sich um Probleme des alltäglichen Lebens. Unter anderem ging es um das Fehlen von Kindergartenplätzen. Boos schlug vor, dass gutsituierte Beamte zugunsten ärmerer Familien auf ihren Platz verzichten sollten. Er wies den Minister für Erziehung und Bildung an, die betroffenen Familien zu registrieren, um für sie einen privaten Kindergarten einzurichten. Zur gleichen Zeit versammelten sich etwa 100 Menschen auf dem Platz vor dem Haus der Räte zu einem „Mandarin-Flashmob“. Als „Flashmob“ bezeichnet man einen kurzen, scheinbar spontanen Menschenauflauf auf öffentlichen Plätzen, bei denen sich die Teilnehmer üblicherweise nicht persönlich kennen und ungewöhnliche Dinge tun. In diesem Fall hielten sie Mandarinen hoch und skandierten: „Das ist Boos.“ Hintergrund ist, dass Oppositionelle, Boos den Beinamen „Mandarin“ gegeben haben in Anspielung auf die mittelalterlichen Höflinge in China. Gegen 14 Uhr begaben sich die Oppositionspolitiker Solomon Ginsburg, Konstantin Doroschok und Arsenij Machlow vom Studio hinaus zu den Menschen, die im strömenden Regen vor den Fernsehkameras warteten. Dies veranlasste den Leiter der Fernsehbrücke zu der Frage, warum die Politiker nicht direkt mit dem Volk über dessen Beschwerden redeten. Daraufhin ordnete Boos an, dass einige Minister und Abgeordnete der Gebietsduma und des Stadtrates sich zu den Kamerastandorten zu begeben hätten, was mehrere für kurze Zeit dann auch taten. Gouverneur Boos antwortete schlagfertig und überzeugend auf alle Fragen, die sich zum Beispiel um sein Dienstflugzeug und um das Fehlen öffentlicher Toiletten in der Stadt drehten. Die Oppositionspolitiker erzählten, als sie ins Studio zurückkehrten, dass die meisten Fragen der Bürger über die Tarife für kommunale Dienstleistungen betrafen, außerdem Visa-Probleme und die Schwierigkeiten von Ostpreußen nach Russland zu gelangen. Auch die Erhöhung der Grundsteuern sei ein Thema gewesen. Die Fernsehbrücke hat gezeigt, dass die Gebietsbewohner sich in erster Linie um alltägliche Dinge Sorgen machen und nicht um die grandiosen Pläne, Programme und Bauprojekte, die der Gouverneur ihnen vorschlägt. Die Menschen fordern das Versprechen ein, im Königsberger Gebiet den gleichen Lebensstandard wie in den benachbarten europäischen Ländern zu schaffen. Vielleicht hat die Fernsehbrücke Gouverneur Boos sein Volk ein wenig näher gebracht. Jurij Tschernyschew


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