25.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
27.03.10 / Die ostpreußische Familie / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 12-10 vom 27. März 2010

Die ostpreußische Familie
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Lewe Landslied,

lewe Familienfreunde,

er hat nun die Gewissheit bekommen, dass die schrecklichen Fluchterlebnisse seiner Kindheit keine Hirngespinste waren, sondern Wirklichkeit, unser Landsmann Horst Jucknat aus Hardert. Bisher hatte er immer daran gezweifelt, wusste nicht, ob es nicht doch eher Phantasiegebilde waren, die aufgrund von Gesprächen seiner Mutter mit anderen Flüchtlingen entstanden waren und die ihn sein ganzes Leben verfolgten. Bis in diese Tage, wo er endlich wissen wollte, ob andere Vertriebene in ihrer Kindheit ähnliches erlebt hätten, wie er vermeinte. Danach hatte sich der Fünfjährige in einem Flüchtlingszug aus Ostpreußen befunden, als dieser bei Stettin von Horden gestürmt wurde. Sie warfen das letzte Hab und Gut aus den Waggons und schleuderten auch kleine Kinder auf den Bahndamm und in den Fluss, vermutlich die Oder. Das Schreien der Kinder, das Weinen der Mütter glaubte Horst Jucknat noch immer zu hören. Jetzt, wo er seine eigene Mutter nicht mehr befragen konnte, wandte er sich an uns – für ihn die einzige Möglichkeit, zu erfahren, ob er dies wirklich erlebt haben könnte. Jetzt kam sein Brief, in dem er uns mitteilt, dass er die Bestätigung dieser furchtbaren Geschehnisse erhalten habe. Herr Jucknat schreibt: „Ich danke Ihnen, dass sie meine Frage über die mich immer noch quälenden Fluchterlebnisse gebracht haben. Ich erhielt daraufhin vier Reaktionen von ostpreußischen Landsleuten, die als Kinder damals auf der Flucht Schreckliches erlebt haben. Meine verschwommene Erinnerung an die Flucht aus Ostpreußen wird durch diese vier Leidensgefährten als grausame Tatsache zur Gewissheit.“ Einer von ihnen, Walter Kampmann aus Marl, war damals genauso so alt wie Horst Jucknat, aber seine Erinnerungen sind konkreter. Das Kind war mit seiner Mutter und den Großeltern auf der Flucht aus Gumbinnen in Stargard gelandet, als sie von den Russen eingeholt wurden. Die erste Welle lief glimpflich ab, der Junge lernte sogar bei den Besatzern einige Brocken Russisch. Bis dann die zweite Welle hereinbrach, bei der Frauen und Männer eingesammelt und abtransportiert wurden. Walter Kampmann berichtet: „Zum Glück reichte mein Russisch, um bei dem zuständigen Offizier meine Mutter auszulösen. Wir zogen dann mit einem Handwagen, der unsere letzten Habseligkeiten aufnahm, in Richtung Westen. Irgendwann gelang es uns, auf einen Güterzug zu kommen, der tagsüber in Richtung Westen, nachts wieder gen Osten fuhr. Wir lagen mit vielen anderen Flüchtlingen in einem Viehwaggon, dessen untere Hälfte mit Eisenblech beschlagen war. Während der Fahrt sprangen Polen auf und warfen alles, was sie greifen konnten, auf den Bahndamm: Koffer, Pungels und Kinderwagen. Ob sich darin auch Kleinkinder befanden, kann ich nicht mehr sagen. Die Flüchtlinge banden die Türen zu, als die Polen abgezogen waren. Eine zweite Gruppe konnte nun nicht mehr in den Waggon gelangen und beschoss den Zug. Die Blechverkleidung rettete uns das Leben.“ Soweit die Erinnerungen von Walter Kampmann, die erstaunlich präzise sind für einen damals Fünfjährigen. Herr Kampmann war einverstanden, dass wir auch seine Erlebnisse in unserer Kolumne veröffentlichten. Wir danken ihm dafür. Authentische Berichte wie diese tragen auch dazu bei, dass sich junge Menschen für die Vertriebenen und ihre Schicksale interessieren, besonders für die Geschehnisse, die Kinder auf der Flucht erlebt haben. Da kann unsere Mitarbeiterin Frau Elisabeth Krahn aus Celle Erfreuliches berichten. Im Hölty-Gymnasium in Celle fand ein Video-Abend statt, zu dem der Lehrer mit seiner Abiturklasse eingeladen hatte. Das Thema „Flucht, Vertreibung Spätaussiedler“ wird auf Veranlassung des Niedersächsischen Innenministeriums in den Geschichtsunterricht der Oberschulklassen eingebracht. Wir haben über einige Veranstaltungen bereits berichtet, in denen Zeitzeugen vor Schülern ihr Schicksal schilderten und mit den jungen Zuhörern diskutierten. Hier handelte es sich aber um ein Projekt, das Schülerinnen und Schüler mit Einbezug von befragten Vertriebenen gestalteten. Das Ergebnis wurde auf dem Video-Abend einem interessierten Zuschauerkreis im überfüllten Theatersaal der Schule vorgestellt und sehr positiv angenommen. Ein Schüler sprach die Kommentare zu dem 40 Minuten dauernden Film, der mit Aufnahmen von dem im Kreis Mohrungen gelegenen Nariensee begann. Es folgten die Berichte der vier befragten Vertriebenen aus Ostpreußen und Schlesien über die Fluchterlebnisse in ihrer Kindheit, die nie vergessen wurden. Im Wechsel mit Aufnahmen aus alten Wochenschauen bekamen ihre Erinnerungen eine eindrucksvolle Authentizität. Es gab keine politischen Belehrungen, so konnten die Aussagen der damaligen Flüchtlingskinder unbeeinflusst als solche aufgenommen werden. Mit der Frage „Wer bin ich?“ und der Feststellung „Seit aus Mittel- Ostdeutschland geworden ist, werde ich nur bis Oder/Neiße eingeordnet, aber aus Polen komme ich auch nicht. Ich habe keine Identität mehr.“ endete der Film. „Gerade diese Worte einer Zeitzeugin sollen die jüngere Generation auf das Schicksal der Vertriebenen aufmerksam machen“, hofft Frau Krahn, die zu den Befragten gehörte. Das wäre wünschenswert, denn bei einer anschließenden Befragung der Zeitzeugen durch die Zuschauer konnte man merken, dass die Jüngeren nicht vollständig über das Thema informiert waren. Die CD, die jeder der Befragten erhält, kann auch an anderen Orten gezeigt werden. Ebenso sollen andere Schulen von der Arbeit der Celler Schüler profitieren, was wünschenswert wäre. Sicherlich werden wir noch mehr über dieses wohl bisher einmalige Projekt einer Abiturklasse hören. Zuerst aber geht ein herzlicher Dank an Frau Elisabeth Krahn, die Schriftstellerin aus dem Oberland, für diesen Bericht. Als Zeitzeugin wäre wohl auch Heidrun Claret in Frage gekommen, denn auch sie war damals fünf Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter und zwei jüngeren Brüdern von ihrem Heimatort Burgsdorf, Kreis Labiau auf die Flucht ging. Allerdings kann sie sich nur lückenhaft an ihren Fluchtweg erinnern, und das bekümmert sie, denn sie möchte diesen, ihr weiteres Leben so bestimmenden Teil ihrer Kindheit aufarbeiten. In Erinnerung ist geblieben, dass ein Militärlaster auf den Schulhof fuhr, Soldaten in Schneehemden herunter sprangen und die kleine Familie mit drei Koffern auflud. Das geschah am 26. Januar 1945 genau vor dem Schulhaus, der Vater war Lehrer an dieser einklassigen Dorfschule. Auch an einen Aufenthalt in Königsberg erinnert sich Frau Claret, sie war dort schon oft bei Verwandten gewesen: „Als wir diesmal durch die Stadt fuhren, verfiel ich in einen Singsang: kurz und klein, kurz und klein! Niemand hinderte mich am Singen. Wie wir dann nach Pillau gelangten, weiß ich nicht. Am Hafen hatten wir nur noch zwei Koffer. Mit einem Schiff wurden wir nach Gotenhafen gebracht. Das war am 5. Februar. Ich habe noch eine Bescheinigung des Städtischen Krankenhauses, dass mein damals zehn Monate alter Bruder erkrankt und nicht transportfähig sei. Wann wir in Gotenhafen auf die ,Hamburg‘ gelangten, weiß ich nicht. Da die erste Fahrt Ende Januar stattfand, das Schiff aber nach der dritten Fahrt am 7. März versenkt wurde, nehme ich an, dass wir auf der zweiten Fahrt dabei waren. Wir landeten in Saßnitz, von dort ging es im Personenzug weiter nach Rostock, wo wir einige Zeit in einem von den Bewohnern verlassenen Haus untergebracht waren. Hier ist mir noch sehr gut in Erinnerung, dass ich keine der ,kinderlos‘ herumliegenden Puppen mitnehmen durfte. Unsere Flucht endete in Schleswig-Holstein bei Hademarschen auf dem Dachboden eines Bauernhauses. Hier verstarb mein jüngster Bruder am 23. März.“ Das sind die Spuren, auf denen Frau Claret ihren Fluchtweg zurückverfolgen kann. Aber wie die Lücken schließen? Vielleicht waren weitere Bewohner des bei Groß Baum gelegenen Heimatdorfes mit der Lehrerfamilie auf die Flucht gegangen? Es wäre denkbar, dass sich Geflüchtete melden, die in Gotenhafen auf die „Hamburg“ kamen und auf der zweiten Fahrt dabei waren. Hier wäre Frau Claret für genaue Zeitangaben und den Verlauf der Flucht über See bis Saßnitz dankbar wie überhaupt für alle Zuschriften zu ihrem Fluchtweg. (Heidrun Claret, Im Letten 14 in 79848 Bonndorf im Schwarzwald, Telefon/Fax 07703/7980.) Was für die Ostpreußin Heidrun die „Hamburg“ ist, ist für die Westpreußin Waltraut die „Hercules“. Und ähnlich wie die Frage von Frau Claret lautet auch die von Frau Hartmann aus Ebstorf – aber doch mit einem erheblichen Unterschied: Sie hat keine Erinnerungen mehr an ihren Fluchtweg, kann sie nicht haben, denn die kleine Waltraut wurde damals gerade ein Jahr alt. Aber gerade diese frühesten Wege ihrer Kindheit sind für sie so wichtig, weil sie nur wenige Informationen besitzt, und die übermittelt sie uns mit der Hoffnung, Näheres zu erfahren. Waltraut Hartmann schreibt: „Meine Mutter ist am 21. Januar 1945 mit meinem Bruder, meiner Halbschwester und mir – damals zehn Monate alt – aus Klein Ludwigsdorf, Kreis Rosenberg/Westpreußen geflüchtet. Mein Vater mit Pferd und Wagen, wir mit dem Zug. Ziel: Wollenthal als Treffpunkt. Leider haben wir uns dann verloren und sind weiter mit dem Zug geflüchtet. Irgendwann kamen wir nach Putzig in der Kaschubei, wo ich mit Lungenentzündung in das Krankenhaus musste. Wie lange ich dort war, weiß ich nicht, kann auch niemanden mehr befragen. Dann wurde uns mitgeteilt, dass noch ein Schiff für den Transport über See für uns Flüchtlinge bereit stünde, es war die ,Hercules‘. Wir wurden mit einem Fischkutter bis zur Halbinsel Hela gebracht und kamen bei Sturm über Strickleitern auf das Schiff. Soldaten waren uns dabei behilflich. Nachdem wir ausgelaufen waren, musste das Schiff wegen des Sturms notankern. Das geschah Mitte März, denn am 14. März waren wir noch auf See, es war mein erster Geburtstag. In Kopenhagen wurden wir ausgeschifft und anschließend im Hotel Royal untergebracht. Nach der Kapitulation wurden wir mit Güterzügen in ein Lager nach Skystrup an die dänische Westküste gebracht, wo wir bis zu unserer Entlassung im Dezember 1946 blieben. Können Sie mir helfen und mir sagen, an wen ich mich wenden kann, um Näheres über die ,Hercules‘ und unsere Flucht zu erfahren?“ Mit dieser Frage schließt der an die Landsmannschaft Ostpreußen gerichtete Brief von Frau Hartmann. Und die wurde schnell beantwortet mit: „Die Ostpreußische Familie“. Nun hoffen wir, dass sich jemand aus unserem Leserkreis meldet, der ebenfalls auf der „Hercules“, einem zu der Bremer Reederei Neptun gehörenden, 2883 Bruttoregistertonnen (BRT) großen Schiff, war oder über den letzten Fluchtweg Hela etwas sagen kann. Wo dann, als die letzten Schiffe am 9. Mai die Halbinsel verlassen hatten, 60000 Flüchtlinge und Soldaten den Russen in die Hände fielen. (Waltraut Hartmann, Tatendorfer Straße 16 in 29574 Ebstorf, Telefon 05822/855.) Unser Bild ist heute ein echtes Familienfoto, denn es zeigt eine Eydtkauer Familie – die Flucht lag noch fern, die Stimmung war heiter und unbeschwert. Wann genau diese Aufnahme in dem ostpreußischen Grenzort, dem früheren Eydtkuhnen, gemacht wurde, ist nicht bekannt, aber immerhin kann Herr Martin Behrendt aus Osnabrück die Namen einiger auf dem Foto abgebildeten Personen nennen: Der Junge in der dunklen Jacke ist sein Vater Günther Behrendt, * 23. Juli 1925 in Eydtkau, der junge Mann im weißen Hemd sein Onkel Erwin. Ganz rechts in dem Clubsessel sitzt Mutter Auguste Behrendt geborene Tollkühn. Die anderen Personen, – zwei Jungen, ein Mädchen und eine junge Frau – sind für Martin Behrendt nicht identifizierbar, denn er selber ist erst 1959 geboren. Da er seinen inzwischen verstorbenen Vater wie auch Großmutter und Onkel nicht mehr befragen kann, bleibt nur noch unsere Ostpreußische Familie. Wer erkennt die vier unbekannten Personen auf dem Foto, das wahrscheinlich im Haus Kirchenplatz 3 aufgenommen wurde? Dem Alter von Günther Behrendt und der Kleidung nach könnte es etwa um 1936 gemacht worden sein. (Martin Behrendt, Lieneschweg 81 in 49076 Osnabrück, E-Mail: augenoptik-preiswert@osnanet.de) Eure Ruth Geede


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren