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15.05.10 / Der »kalte Sturm« aus dem Osten / Ein Erlebnisbericht von den letzten Tagen in der Heimat Ostpreußen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 19-10 vom 15. Mai 2010

Der »kalte Sturm« aus dem Osten
Ein Erlebnisbericht von den letzten Tagen in der Heimat Ostpreußen

Siegfried Petrikowski, geboren am 18. April 1934 in Willenberg (Ostpreußen) erlebte die letzten Stunden seiner Heimat Ostpreußen, bevor sich die Familie auf die Flucht begab.

In den Vormittagsstunden des 19. Januar 1945, die Straßen waren voll mit Soldaten, Aufregung beherrschte das Ortsbild, ein Konvoi mit verwundeten Soldaten fuhr vorbei.

Plötzlich Luftalarm!

Meine Mutter nahm mich und meinen Bruder Manfred an die Hand, unsere Schwester Ruth war in einem BDM-Lager,  wir rannten zum Luftschutzbunker, ein Kellerraum einige Häuser weiter, es waren schon viele Leute da, auch Soldaten. Dann ein fürchterliches Dröhnen, Krachen, Bersten und wieder und wieder. Man hatte das Gefühl, hier kommst du nicht mehr heraus. Die Menschen beteten laut. Es entstand eine Pause, und die Soldaten sagten: „Nicht nach draußen gehen, erst abwarten!“

Als es still wurde, wagten sich einige auf die Straße. Schnell gingen wir anderen nach. Es bot sich uns ein chaotisches Bild. Zerstörte Häuser, Brand, Rauch, Tote, ein getroffener Lkw brannte. Die Leute waren in Panik, sie rannten – nichts wie weg, heraus aus der Stadt.

Unsere Mutter nahm aus der Wohnung, Kirchstraße 43, noch eine Tasche mit Papieren und dann schnell weg zur Ortelsburger Straße. In der Nähe der Schule erlebten wir einen neuen Angriff aus der Luft; wir mussten in Bodendeckung gehen und abwarten.

Als es wieder still wurde, gingen wir zur Straße und hatten Glück, ein Militärlaster nahm uns mit in Richtung Ortelsburg. Es war bereits nachmittags, plötzlich hielt der Lkw, ein Soldat kam und forderte uns auf: „Aussteigen, runter in den Straßengraben!“ Schon kamen die Tiefflieger, wir wurden beschossen. Wir konnten die aufspritzenden Geschosse sehen, unsere Mutter warf sich auf meinen Bruder Manfred, um ihn zu schützen, dann war der Lärm vorbei und es gab eine Pause, wieder aufsitzen und weiter ging die Fahrt bis zum Bahnhof Ortelsburg.

Es hieß, ein Transport geht mit Zivilisten in Richtung Allenstein. Wir warteten auf dem Bahnsteig, hunderte Leute waren schon da, alle in Panik, alle rannten, alle würden keinen Platz im Zug haben, Mütter mit Kindern hatten den Vorzug, das musste die Polizei klären. Der Transport rollte ein, es war in den frühen Morgenstunden des 20. Januar. Wir konnten einen Platz ergattern. Es dauerte lange, dann fuhren wir sehr langsam aus dem Bahnhof. Nicht weit und wir standen wieder. Mehrmals Anfahren und Halten, als hätte der Transportführer Befehl abzuwarten. Wieder langsames Anfahren, als wollte er uns Ade sagen lassen.

Tatsächlich fahren wir nicht nach Allenstein, sondern kommen in Bischofsburg an. Es wird erzählt, in Allenstein seien schon die Russen. Die langsame Fahrt geht weiter.

Wir passieren Braunsberg. Dann schließlich die Brücken über Nogat und Weichsel. Die alten Leute beten und jammern. Gott sei Dank! Wir sind drüber und in Dirschau, die Fahrt bis Schneidemühl geht gut voran, hier werden wir von der NSV mit Lebensmitteln und warmen Getränken versorgt.

Ich weiß nicht mehr, wie lange die gesamte Fahrt dauerte. Bei einem Halt auf offener freier Strecke – es war sehr kalt und es lag viel Schnee – wagten sich einige Mütter zu Fuß in die nächste Ortschaft, um etwas zum Trinken für ihre Kinder zu besorgen. Der Transport fuhr weiter, ohne die Frauen. Die Kinder schrieen verzweifelt. Keiner konnte sagen, wo es hinging und wie weit die Russen schon waren. Diese Ungewissheit machte die Leute stumpf, apathisch.

Die Lebensmittel wurden knapp, ich hatte zwei Tage nichts mehr zu trinken bekommen. Bei einem Halt ging ich zur Lok und bekam etwas Wasser aus dem Kessel zum Trinken. Schließlich landeten wir nach tagelanger Irrfahrt durch Ostpreußen in Cottbus. Von dort fuhren wir nach Weißwasser, wo unsere Tante Leni wohnte. Da wollten wir alles abwarten, um wieder zurück nach Willenberg nach Hause zu fahren. Es kam anders. Wir mussten nach einigen Wochen weiter flüchten, nach Steinwiesen in Oberfranken.

Viel später erfuhren wir, dass die Stadt Willenberg am 22. Januar 1945 nach schweren Kämpfen von den Russen eingenommen wurde.

Seitdem habe ich meine Heimat nicht mehr gesehen.

Siegfried Petrikowski


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