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22.05.10 / »Hier ruht Hun Berta« / Kinderliebe kann zuweilen recht erdrückend sein

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 20-10 vom 22. Mai 2010

»Hier ruht Hun Berta«
Kinderliebe kann zuweilen recht erdrückend sein

Meine Cousine Eva und ich mussten uns damit abfinden nun jeden Tag in die Schule gehen zu müssen. Die sorglose Kinderzeit war vorüber! So sagte jedenfalls Opa Schmidt, Evas Großvater, mit leisem Lächeln.

Meine Schwester Angela, etwas jünger als wir, musste sich von nun an jeden Tag allein beschäftigen. Bei unseren Unternehmungen war sie eh wie ein Klotz am Bein, weil sie mit uns „großen Mädchen” nicht so recht mithalten konnte.

Da in unserem kleinen Hof außer Kaninchen auch noch Hühner gehalten wurden, die rastlos auf dem winzigen Rasenstück oder zwischen den holprigen Pflastersteinen herumpickten, hatte Angela eines Tages die glanzvolle Idee, sich eins der Hühner als Spielzeug zu erwählen. Also schnappte sie sich das schwächste und kleinste unter den Tieren, zog ihm ein gehäkeltes Jäckchen und ein gestricktes Mützchen über, packte das arme Tierchen in ihren Puppenwagen und schaukelte mit ihm über den alten Marienplatz.

„Das ist Berta”, erklärte sie unserer Großmutter, „hast du vielleicht ein Fläschchen Milch für sie übrig?” Oma hatte Mühe Angela davon zu überzeugen, dass Hühner Körner fressen und es gar nicht mögen, in Puppenwagen gefahren zu werden, und befreite das Hühnchen aus seiner misslichen Lage. Angela, die den Erwachsenen ohnehin nichts glaubte, nahm sich das Tierchen wieder vor, um ihr Spiel neu zu beginnen. „Berta ist mein Kind und hat mich lieb”, sagte sie mit trotzig vorgeschobener Unterlippe und drückte es zärtlich an ihre magere Brust, bis das Huhn schließlich an der zupackenden Liebe der Kleinen verendete. Eva und ich gruben der armen Berta ein Grab in einer Ecke des Hofes, wo auch schon eine Ratte, der wir auf den Schwanz getreten hatten, bestattet lag.

„Hier rut Hun Berta”, verkündete die Krakelschrift Evas auf dem Zettel, den ich über dem Grab an ein Stöckchen geheftet hatte, „ruhe in Friden“.

Angela fühlte sich getröstet, als wir auch noch ein letztes Lied für Berta anstimmten, und sie sang aus voller Kehle mit: „Häschen in der Grube saß da und schlief ...”; Häschen statt Huhn – egal, die Melodie war maßgebend. Sinnend sah das kleine Mädchen auf das Grab hinab und danach lenkte sie ihre verlangenden Blicke zu der Hühnerschar hin.

„Wage es nicht, noch ein Huhn als Spielzeug zu missbrauchen”, sagte ich streng, „noch einmal helfen wir dir nicht!”

Angela grinste verschämt. „Schon gut, diesmal nehme ich halt Müllers Katze von nebenan. Der kann ich wenigstens auch Söckchen anziehen.”     Gabriele Lins


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