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19.06.10 / Geprägt von harter Arbeit / Der Dichter Hermann Hesse lebte acht Jahre am Bodensee in einem bäuerlich-schlichten Domizil

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 24-10 vom 19. Juni 2010

Geprägt von harter Arbeit
Der Dichter Hermann Hesse lebte acht Jahre am Bodensee in einem bäuerlich-schlichten Domizil

Seit über 100 Jahren begeistert Hermann Hesse die Jugend der Welt. Für viele waren seine Bücher treue Begleiter in den Jahren der Bewusstseinsbildung. Einige seiner Werke entstanden am Bodensee, wo der Dichter und Nobelpreisträger acht Jahre lebte.

Die Sonne segnet die Türme und Zinnen der Stadt mit goldenem Licht und wärmt das mit roten Schindeln bedeckte Dach des Konzilgebäudes in Konstanz. Hinter seinen geschichtsträchtigen Mauern wurden im Sommer 1415 der tschechische Priester, Reformator und ehemalige Rektor der Karls-Universität Prag Jan Hus zum Tode verurteilt und 1417 am Martinstag, dem 11. November, Oddo Kardinal di Colonna zum Papst Martin V. gewählt.

Langsam entfernt sich unser Boot vom Konzilgebäude und gleitet aus dem Hafen über den Rhein durch die Stadt hinaus auf den spiegelglatten Untersee, der allmählich erwacht. Im Morgendunst dümpeln kleine Fischerboote. Zielstrebig queren wir den See und nähern uns der Halbinsel Höri – einer idyllisch gelegenen Kolonie, die bevorzugt von Künstlern und Naturfreunden bewohnt wird und bis heute Bestand hat. Es geht nach Gaienhofen.

„Gaienhofen ist ein ganz winziges Dorf“, schrieb Hermann Hesse im September 1904 an Stefan Zweig. „Es hat keine Eisenbahn, keine Kaufläden, keine Industrie. Dafür ist die Landschaft licht und hübsch; es gibt genügend Stille, Luft und Wasser gut, schönes Vieh, famoses Obst und brave Leute ... Es lebe Peter Camenzind! Ohne den hätte ich nicht heiraten und nicht hierher ziehen können. Er hat mir 2500 Mark eingebracht, davon kann ich zwei Jahre leben, wenigstens wenn ich hier bleibe.“

1904 veröffentlichte Hermann Hesse den Roman „Peter Camenzind“, in dem er das Leben eines in ärmlichen Verhältnissen lebenden Schweizer Bergbauernbubs auf der Suche nach sich selbst schildert, der gern wandert, die Natur liebt und am Sinn des Lebens zweifelt. Hesses erster Roman traf den Zeitgeist der Jugend und wurde auch finanziell ein Erfolg. Sein Buch handelt von der Absage an Großstadt und Moderne, rückt stattdessen die Innerlichkeit, die Schönheit der Natur und Wertschätzung des Individuums stark in den Vordergrund. „Zurück zur Natur“ lautete dann auch die Devise vieler junger Menschen, die dem unaufhaltsamen Boom der rücksichtslosen Industrialisierung Anfang des 20. Jahrhunderts mit Sorge und Skepsis begegneten und das Weite suchten. Auch Hermann Hesse suchte Erfüllung in der Natur, folgte dem Vorbild seiner eigenen Romanfigur und zog mit seiner Frau Mia, einer Fotografin aus Basel, aufs Land.

Hesses Zeit in Gaienhofen war geprägt von harter Arbeit. Für Haus und Unterhalt zu sorgen war beileibe kein Zuckerschlecken.

In seinem bäuerlich-schlichten Domizil gab es weder Strom noch Gas, geschweige denn eine Wasserleitung. Die Anreise erfolgte umständlich per Dampfschiff, von Konstanz aus an das gegenüberliegende Ufer nach Steckborn und weiter mit dem Bootsmann über den See nach Gaienhofen, das seinerzeit 300 Einwohner zählte. Bis auf einen Bäcker gab es vor Ort keine Einkaufsmöglichkeiten. Für den täglichen Bedarf ruderte Hesse regelmäßig hinüber an das knapp zwei Kilometer entfernte Ufer der Schweiz nach Steckborn. Dafür wohnte das junge Paar am Untersee äußerst preiswert. Für 150 Mark pro Jahr hatte ihm der Bauer die Wohnhälfte mit fünf kleinen Stuben seines Gehöfts vermietet, während die andere Hälfte als Stall und Scheune landwirtschaftlich genutzt wurde.

Über sein erstes Wohnhaus, das heute als Museum mit Literaturbereich und Galerie der „Höri-Künstler“ jedem Interessenten offen steht, schrieb Hesse 1930 in seinem Buch „Wahlheimat“: „Mir das Leben leicht und bequem zu machen, habe ich leider niemals verstanden. Eine Kunst aber, eine einzige, ist mir immer zu Gebote gestanden: die Kunst, schön zu wohnen. Seit der Zeit, da ich meinen Wohnort mir selbst wählen konnte, habe ich immer eine charakteristische, große, weite Landschaft vor meinem Fenster gehabt.“

Vom großen Schreibtisch, den Hesseverehrer seit Einführung der Hesse-Tage 2004 in Gaienhofen besichtigten können, schweift der Blick über die romantische Landschaft, den See und das Appenzellerland bis zu den schneebedeckten Glarner Alpen mit dem 2502 Meter hohen Säntis. Davor entfaltet sich ein unberührtes, schilfbewachsenes Naturschutzgebiet mit seltenen Pflanzen und einzigartigen Vögeln. Ringsum locken idyllische Dörfer, sorgsam angelegte Obst- und Gemüsegärten, die Schatten spendenden Wälder des Schienerbergs und eine Vielzahl an Rad- und Wanderwegen, die zu ehrwürdigen Klöstern, barocken Schlössern und wehrhaften Burgen mit reichhaltigen Kulturschätzen führen. In fast jedem Ort finden sich historische Bauwerke, die eine Besichtigung lohnen. Mal sind sie im heiteren Barock, mal im Stil der Renaissance erbaut. Die alten Häuser sind schmal und hoch, die Fassaden mit Fresken reich verziert oder schlicht aus Fachwerk. 

Nach seiner Indienreise 1912 kam Hesse zu dem Schluss, dass das Leben sich in Gaienhofen für ihn erschöpft habe: „Acht Jahre habe ich nun am Untersee zwischen Konstanz und Stein gewohnt, und wenn ich nun ans Abschiednehmen denke und zum letzen Mal meinen Garten bestelle, so tue ich’s nicht aus Müdigkeit, weil mir die Gegend verleidet wäre, sondern aus dem Bedürfnis nach Menschennähe. Die Landschaft des Untersees wird mir zeitlebens fehlen, es sprechen an wenigen Orten so stark wie hier zu dem Fenster herein See, Wald, Himmel und Wiese zu mir ... und ich meine, schon im voraus zu fühlen, wie der Anblick des weiten Wassers, über dem alle Lufterscheinungen so rein und farbig wirken, mir später überall fehlen wird ...“

Noch im selben Jahr suchte Hesse einen Käufer für das schöne Wohnhaus, das er nach der Veröffentlichung seines zweiten Buches „Unterm Rad“ 1907 wegen der Geburt dreier Söhne am Erlenloh in Gaienhofen hatte bauen lassen, und zog mit der Familie nach Bern in das Haus des verstorbenen Malers Welti. Renato Diekmann

Foto: Am Bodensee: Auf den Spuren Hermann Hesses


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