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26.06.10 / Die Kletterpartie / Reiselust und kindlicher Übermut sind manchmal schlechte Berater

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 25-10 vom 26. Juni 2010

Die Kletterpartie
Reiselust und kindlicher Übermut sind manchmal schlechte Berater

Den Sommer verbrachten sie gern daheim. Im Schatten hoher Bäume auf einer Park- oder Friedhofsbank zu sitzen – das genügte den beiden voll und ganz. Doch wenn das Laub sich leise zu verfärben begann, der Himmel plötzlich um vieles höher wirkte und die seidig-glatte Bläue der See bei Windstille zeigte – dann, ja, dann gab es kein Halten mehr für Hilde und Hannelotte.

„Draußen tut sich was“, pflegte Hannelotte, die jüngere der beiden verwitweten Schwestern, dann voll verhaltener Freude festzustellen. „Auf meinem Balkon lag heute das erste gelbe Birkenblatt.“ Hilde schob mit grimmiger Befriedigung die Unterlippe vor: „Dann wird’s wohl Zeit, die Fahrkarten zu kaufen!“

Wohin die Reise gehen sollte, das wußten sie schon ganz genau. Jedes Jahr suchten sie sich ein anderes Ziel aus; mal waren es die stillen Winkel des Berchtesgadener Landes, mal der Taunus, und wieder ein anderes Mal die rebengeschmückten Steilhänge des Mains. Auch jetzt hatten sie sich für eine Gegend entschieden, die der Herbst besonders gut kleidete.

Bei ihrer Ankunft lagerten in den Senken der sanften Hügellandschaft bereits tiefe Schatten, doch die bewaldeten Kuppen glühten in flammendem Rotgold. „Schön hier“, nickte Hilde nach einem ersten Blick aus dem Fenster. „Mich juckt schon mächtig der Wanderfuß.“ Wandern – das war ihre Leidenschaft. Mit der gleichen Ausdauer und Begeisterung, mit der sie früher gemeinsam mit ihren Ehemännern durch Wald und Flur gestreift waren, erkundeten sie auch jetzt, als rüstige Damen im besten Alter, die Schönheiten der Natur.

Gleich nach dem Frühstück ging es hinaus in den manchmal noch nebelfeuchten Morgen. Weinberge gab es hier keine, dafür aber Obstgärten in Hülle und Fülle. Und so war es Ehrensache für die beiden, gegen Ende der Wanderung in einem gemütlichen Wirtshaus einzukehren und den hiesigen Birnenschnaps oder ein anderes „gehaltvolles“ Obstwässerchen zu kosten.

Mag sein, dass es das berühmte Gläschen zu viel war, das Hannelotte an jenem denkwürdigen Abend zum Ausprobieren ihrer Kletterkünste verleitete. Die Sonne stand schon tief über dem Tal, und bis nach Hause ins Ferienquartier waren es nur noch wenige hundert Meter, als der Weg sie an einem mit Sträuchern und Ebereschen bestandenen Wiesengraben vorbeiführte. „Schau nur, wie rot die Beeren leuchten!“, rief Hannelotte entzückt. „Als Kinder haben wir uns immer Ketten aus ihnen gemacht.“ „Na, und erst das Gelee, das Mutter daraus gekocht hat!“, erinnerte sich Hilde. „Am schönsten war aber das Klettern. Ich glaube, das könnte ich heute noch …“

Hilde runzelte die Stirn. „Jetzt sag‘ nicht, dass du auf deine alten Tage noch in Ebereschen herumkraxeln willst!“ „Nur probieren, ob’s noch klappt!“, lachte Hannelotte spitzbübisch und rüttelte versuchsweise am untersten Abzweig des Baumes. „Wenn du mir von unten einen Schubs gibst, dann komm‘ ich mühelos hinauf.“ „Die Knochen wirst du dir brechen!“, schimpfte Hilde, doch im selben Moment hatte sich ihre Schwester bereits aus eigener Kraft am Stamm hochgezogen. Geschickt hangelte sie sich von Ast zu Ast.

„Du, das macht vielleicht Spaß!“, hörte Hilde sie rufen. „Gleich bin ich oben!“ Der Baum war vielleicht fünf, sechs Meter hoch. Und die bewältigte Hannelotte tatsächlich mühelos. „Komm jetzt runter“, drängte Hilde. Doch das schien ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. „Ich trau‘ mich nicht“, rief Hannelotte ganz verzagt, ja, ängstlich zu ihr herunter. „Es ist so furchtbar hoch. Ich glaube, du mußt Hilfe holen.“

Die folgenden Minuten würde Hilde in ihrem ganzen Leben nicht vergessen. Nachdem alles Zureden erfolglos geblieben war, rannte sie ins Dorf, schwindlig vor Angst und Sorge und gleichzeitig auch wütend, dass sie sich mit dieser Kletterpartie beide zum Narren machten.

Gleich am ersten Haus läutete sie Sturm. Wenn sie auf Spott oder Unglauben gefaßt war, so wurde sie eines Besseren belehrt. Im Nu hatte der junge Familienvater Leiter und Auto aus der Garage geholt, um Minuten später eine völlig aufgelöste Hannelotte vom Baum zu lotsen. „Das Raufkommen ist halt leichter als das Runterkommen“, lachte ihr Retter. „Daheim spülen Sie den Schreck am besten mit einem ordentlichen Schluck hinunter!“ „Schnaps?“ Hilde und Hannelotte sahen sich wie auf Kommando an. „Bloß das nicht!“            Renate Dopatka


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