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03.07.10 / Der verlorene Schatz / Ein Erbe lässt sich nicht immer in Zahlen ausdrücken

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 26-10 vom 03. Juli 2010

Der verlorene Schatz
Ein Erbe lässt sich nicht immer in Zahlen ausdrücken

Der Opa wurde im hohen Alter zu Grabe getragen. Ein lieber Mensch ist gegangen. Die Trauer ist groß. Der Opa hat oft, fast zu oft für die Kinder, von seiner Heimat erzählt. Wenn er ans Erzählen kam, haben sich alle, so weit es ging, weggestohlen. Bis zum Schluss hat er in seinem Häuschen gewohnt, das er nach der schweren, entbehrungsreichen Zeit, nach Krieg und Flucht, mit seiner Frau aufgebaut hatte. Die Verwandtschaft ging ein letztes Mal durch die Räume, da sich jeder ein Andenken von dem Alten mitnehmen konnte. Manches, das die Kinderzeit der Suchenden begleitete, wurde aus Nostalgie an sich genommen. Zum Schluss blieben Erinnerungsstücke und seine stattliche Bibliothek mit Büchern übrig. Diese Heimat-Bücher wurden kaum angerührt. Schöne Bildbände von dem Land im Osten, Romane, Erlebnisberichte von zu Hause und auch Chroniken und Heimatbücher blieben im Regal liegen.

Alle diese Schätze des Großvaters in den Container schaffen will der Enkel, der den Haushalt auflösen soll, auch nicht. Lustlos blättert er in den schönen, aufwändig gestalteten Bildbänden. Er greift nach der schweren Schwarte „Chronik des Heimatkreises Dirschau“, in der der Großvater oft gelesen hat und das er sehr pfleglich behandelte. Ja, von Dirschau und Mewe, den Städten an der Weichsel, hat er oft erzählt und geschwärmt.

Mancher verdrehte dabei die Augen und stahl sich heimlich aus dem Zimmer. „Dieses dicke schwere Buch passt nicht in unseren Wohnzimmerschrank“, denkt der Enkel sich. Kurz entschlossen spricht er einen Freund an, sich die alten Bücher anzusehen. Der steht den Schätzen im Bücherregal reserviert gegenüber. Ihm wurde schon so manches Mal angeblich Wertvolles angedient, das ihn daraufhin stark belastete.

Beim nächsten Hinsehen erkennt er aber den ideellen Wert der Bücher. Ob damit jedoch ein Geschäft zu machen ist, weiß er nicht. Er fragt den Freund: „Willst du wirklich diese Bücher weggeben?“ „Nimm alles, damit es weg ist, ich kann sowieso damit nichts mehr anfangen,“ entgegnet der andere.

Der Flohmarkthändler drückt dem Freund einen Schein in die Hand. Der Enkel ist nur froh, den ganzen Plunder auf diese angenehme Weise los geworden zu sein. Der Händler der Antiquitäten ist später erstaunt, dass sich viele Leute um diesen Schatz reißen. Manche Versteigerung im Internet erzielt sehr hohe Werte, weil sich die Interessenten gegenseitig zu überbieten suchen.

Die Jahre gehen ins Land. Eines Tages kommt der Sohn aus der Schule und fragt nach der Herkunft der Familie. Die Fragen werden ihm, soweit der Vater kann, geduldig beantwortet.

Der Junge sagt endlich: „Dann sind wir ja alle Polen, denn der Lehrer hat vorgelesen, dass dieses Land immer polnisch gewesen ist.“ Der Vater wird nachdenklich, weiß aber, dass die Familie immer Deutsche gewesen sind. Der Großvater war sogar stolz auf seine deutsche Nationalität.

Der Sohn will mehr von der Herkunft seiner Vorfahren vom Vater erfahren. Leider muss dieser wieder passen. Im Internet lesen sie viele Abhandlungen von polnischen Autoren über diese alten polnischen Provinzen im Westen Polens. Irgendwie hat er aber in Erinnerung, dass der Opa immer von einer 800-jährigen deutschen Kultur gesprochen hat. Er dachte bei sich: Da hatte doch der Großvater eine Chronik seines Heimatortes gerne gelesen. Dieses Buch war sein wertvollster Schatz.

Er fragt den Freund nach diesem Buch. Doch dieser konnte sich nicht mehr genau erinnern. Der Vater besucht auch den Flohmarkt in der Hoffnung, das Buch oder ähnliche Dinge, die an die Heimat seines Großvaters erinnern, zu finden. Vater und Sohn blättern auch gemeinsam im Internet auf den Auktionsseiten. Dort wird tatsächlich die Chronik des Kreises Dirschau von Otto Korthals angeboten. Der Hinweis „nicht mehr gut erhalten“ stört ihn nicht sehr. Er steigt ins Bieten ein. Er will dieses Buch jetzt haben. Sein Jagdfieber erwacht. Doch offensichtlich will alle Welt dieses Buch kaufen. Tapfer steigert er mit. Der Preis ist letzten Endes enorm hoch. Aber er hat es geschafft!

Als der Briefträger nun das schwere Päckchen bringt, packt er es voller Freude gemeinsam mit seinem Sohn aus. Der Erhaltungszustand ist tatsächlich miserabel. Zumindest sind die Seiten vollzählig. Doch jetzt blättern beide andächtig in dem Werk seiner Vorfahren, die dieses Buch hier im Westen nach der Flucht und der grausamen Vertreibung gemeinsam mit anderen geschaffen haben. Regelmäßig liest er der Familie aus dieser Chronik der Deutschen an der Weichsel vor. Die Abbildungen darin verschlingen sie förmlich. Langsam reift der Entschluss, in die Heimat der Vorfahren zu reisen, um das ihnen fremde Land kennenzulernen.    Jürgen Schulz


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