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24.07.10 / Wir sind das Volk – wirklich?

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29-10 vom 24. Juli 2010

Wir sind das Volk – wirklich?
von Hans-Jürgen Mahlitz

Schlechte Zeiten für die etablierten Parteien. In Hamburg wurden die Schulreformpläne des schwarz-grünen Senats per Volksentscheid in den Papierkorb befördert. Zwei Wochen zuvor hatten renitente Wähler in Bayern ebenfalls per Volksentscheid das schwarz-gelbe Wischi-Waschi-Rauchverbot in blauen Dunst aufgelöst.

Die Gewinner feiern ihre Erfolge als Sieg der direkten Demokratie, verweisen auf das Vorbild Schweiz, wo seit eh und je wichtige (und manchmal auch unwichtige) – Fragen dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden.

Die Verlierer bekräftigen stets vollmundig, dass sie „selbstverständlich“ das Votum des Volkes zu respektieren gewillt seien. Das klingt umso großmütiger, als ihnen aufgrund der Rechtslage ohnehin nichts anderes übrig bleibt. Trost finden sie sodann im Hinweis auf die Wahlbeteiligung: Die sei in beiden Fällen so gering gewesen, dass eigentlich doch nur eine Minderheit ihnen in ihr politisches Süpp-chen gespuckt habe. Im Klar­text: Wo Sach­argumente versagen, wird die demokratische Legitimation des Gegners in Zweifel gezogen.

Auf den ersten Blick hat diese Argumentation sogar etwas für sich. In Hamburg hatten sich von 1,1 Millionen Wahlberechtigten 427000 (39 Prozent) an der Abstimmung beteiligt. Die 276304 Stimmen für den Erhalt des bewährten Schulsystems bedeuten 55,8 Prozent der abgegebenen Stimmen, aber nur 25 Prozent der Wahlberechtigten. Ähnlich in Bayern: Dort reduzieren sich die stolzen 61 auf nur 23 Prozent, nimmt man die Stimmberechtigten-Gesamtzahl als Maßstab.

Dennoch ist es abenteuerlich, daraus auf eine eigene „heimliche Mehrheit“ zu schließen. Und es zeugt von schlechtem politischem Stil, den Initiatoren von Volksentscheiden „Minderheiten-Diktatur“ oder gar, wie zuletzt in Hamburg, Rassismus vorzuwerfen. Hier verbirgt sich hinter starken Worten die Angst der etablierten Parteien vor dem Volk. Die Schweiz, in der die Hälfte aller weltweiten Plebiszite stattfinden, kennt derlei Probleme nicht: Hier erreicht die Wahlbeteiligung nur höchst selten die 50-Prozent-Marke. Auf die Idee, den Eidgenossen Demokratie­defizite zu unterstellen, sind bislang aber nicht einmal deutsche Neidgenossen gekommen.

Übrigens: Vor zwei Jahrzehnten hatten die Teilnehmer der Montagsdemonstrationen mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ Deutschlands friedliche Revolution eingeleitet. Sie waren, gemessen an der damaligen DDR-Bevölkerungszahl, nur eine Minderheit. Will man darum etwa auch den „Helden von Leipzig“ nachträglich die demokratische Legitimation absprechen? Noch gilt für die von uns gewählten Volksvertreter nicht die Devise „Was Demokratie ist, bestimme ich“. Noch sind wir das Volk, egal mit welcher Wahlbeteiligung.


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