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31.07.10 / Deutsche Schicksale / Georg-Büchner-Preis für Reinhard Jirgl – Vertreibung thematisiert

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 30-10 vom 31. Juli 2010

Deutsche Schicksale
Georg-Büchner-Preis für Reinhard Jirgl – Vertreibung thematisiert

Der Schriftsteller Reinhard Jirgl, dem am 9. Juli der Darmstädter „Georg-Büchner-Preis“ zugesprochen wurde, war im Jahr des Mauerfalls, 1989,  ein noch völlig unbekannter Autor. Dabei hatte er damals bereits sechs Romane geschrieben, die aber alle ungedruckt in der Schublade lagen, weil sie vom Ost-Berliner Aufbau-Verlag aus politischen Gründen abgelehnt worden waren. Eines dieser verbotenen Manu-skripte, der „Mutter Vater Roman“, erschien dann 1990 just in diesem Verlag, der die Veröffentlichung noch 1985 „wegen unmarxistischer Geschichtsauffassung“ als unzumutbar zurückgewiesen hatte.

Dieses frühe Verbot seiner Texte ist eine der Merkwürdigkeiten, die das Leben dieses zunehmend erfolgreicher auftretenden Autors umgeben. Die zweite ist sein für Mitteldeutschland ganz untypischer Nachname, der zunächst vermuten lässt, er wäre vielleicht ein Nachfahre von Salzburger Emigranten, die 1732 in Ostpreußen eingewandert und 1945 von dort vertrieben worden waren, zumal er in seinen Romanen auch ostpreußische Schicksale aufgreift. Dass er der Sohn sudetendeutscher Aussiedler ist, das lässt sich nur aus dem Dutzend Bücher erschließen, die zwischen 1990 und 2009 von ihm erschienen sind. Geboren ist er am 16. Januar 1953 in Ost-Berlin, wo seine Eltern lebten, aufgewachsen aber bis 1964 bei den Großeltern in Salzwedel/Altmark, bevor er dann zu den Eltern

zurückkehrte, das Abitur ablegte und 1971 bis 1975 Elektronik an der Humboldt-Universität studierte. Nebenbei war er aktives Mitglied im Köpenicker Lyrikseminar, wo er für seine Entwicklung als Schriftsteller entscheidende Impulse empfing. Sein Studium schloss er mit dem Titel eines Hochschulingenieurs ab und bis 1996 arbeitete er als Beleuchtungstechniker an der Berliner Volksbühne, wo der von ihm verehrte Dramatiker und Dramaturg Heiner Müller (1929–1995) wirkte.

Der literarische Durchbruch für den nachgeborenen Sudetendeutschen kam 1995 mit dem Roman „Abschied von den Feinden“ im Münchner Hanser-Verlag. Für das noch ungedruckte Manuskript war er schon 1993 mit dem „Alfred-Döblin-Preis“ ausgezeichnet worden wie 1991 mit dem „Anna-Seghers-Preis“. Weitere Auszeichnungen waren der hochdotierte „Joseph-Breitbach-Preis“ (1999), der „Bremer Literaturpreis“ (2006) und der „Lion-Feuchtwanger-Preis“ (2009). Der Darmstädter „Georg-Büchner-Preis“, begründet 1923 und heute verliehen von der „Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung“, ist der unter deutschen Autoren  angesehenste Literaturpreis.

Reinhard Jirgl, acht Jahre nach Kriegsende geboren, hat Flucht, Vertreibung, Aussiedlung von Eltern und Großeltern aus Komotau in Nordböhmen nicht selbst erlebt, aber er schreibt darüber. In seinen Romanen „Die Unvollendeten“ (2003) und „Die Stille“ (2009) kommt er immer wieder auf das offensichtlich einschneidendste Erlebnis in der Familiengeschichte zu sprechen. So schildert der von der Vergangenheit seiner Vorfahren erfüllte Autor im Roman „Die Unvollendeten“  die Aussiedlung vierer Frauen (der Großmutter, zweier Töchter, einer Enkelin) aus Böhmen nach Sachsen-Anhalt im Spätsommer 1945 und im Roman „Die Stille“ das Schicksal der ostpreußischen Familie Schneidereit.  Reinhard Jirgl steht jetzt mit dem „Georg-Büchner-Preis“ in einer Reihe mit Carl Zuckmayer (1929), Anna Seghers (1947), Gottfried Benn (1951), Wolfgang Koeppen (1962), Günter Grass (1965) und Heinrich Böll (1967).          J.B. Bilke


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