25.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
31.07.10 / Allzu sehr gegen die Natur / Wie die Rote Armee in der SBZ die Moskauer Zeit einführte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 30-10 vom 31. Juli 2010

Allzu sehr gegen die Natur
Wie die Rote Armee in der SBZ die Moskauer Zeit einführte

Ende April 1945 hatten die Westalliierten vier Fünftel des heutigen deutschen Territoriums erobert, die Russen ganz Berlin. Am 1. Juli kam es zur Rochade: US-Truppen tauschten Sachsen und Thüringen für ein hundertfach kleineres Areal von Sektoren in Berlin ein. Kurze Zeit hielten die Sowjets sie noch von Berlin fern, aber ab Mitte Juli bezogen sie ihre Sektoren, aus denen sie noch Raum für einen französischen Sektor abgaben.

In diesem Juli-Trubel wurde stillschweigend ein Kuriosum beendet, das sich die zeitgeschichtliche Forschung bis heute kaum erklären kann: In seinem „Befehl Nr. 4“ vom 20. Mai hatte der sowjetische Stadtkommandant Nikolaj Bersarin angeordnet, „in der Stadt Berlin nach Moskauer Zeit zu arbeiten (Arbeit der Geschäfte, Betriebe, Theater und so weiter)“. Moskau liegt von Berlin eine Zeitzone östlich mit zwei Stunden Zeitunterschied. In diese Zeitmessung griffen russische Sieger ein, wie Erich Kuby 1965 in seinem Buch „Die Russen in Berlin 1945“ beschrieb: „Wo die Sowjets hinkommen, wechseln die Uhren nicht nur den Besitzer, sondern sie werden auch auf Moskauer Zeit umgestellt. In einigen Bezirken wird die Ausgangssperre – zuerst von 18 bis 8 Uhr, dann von 22 bis 8 Uhr – nach Moskauer Zeit festgesetzt, was dazu führt, dass die dort wohnenden Berliner am helllichten Tag von den Straßen verschwinden müssen“.

Kirchenglocken sagten ihnen, wann sie wieder auftauchen durften, denn Uhren und Radios hatten ihnen die Besatzer abgenommen. Die Berliner ertrugen es gelassen, bezeugt der Historiker Norbert Podewin: In Deutschland bestand noch Sommerzeit, was die Uhrzeit-Differenz um eine Stunde minderte. Betriebe waren zerstört, Schulen geschlossen, Busse und Bahnen kamen erst langsam wieder in Fahrt. Nur in der Kultur tat sich etwas, was Bersarin in Unterredungen mit Gustaf Gründgens und anderen Künstlern angeschoben hatte: Ab 13. Mai fanden wieder Konzerte statt, kurz darauf spielten 15 Kinos und sogar einige Theater.

Der Pragmatiker Bersarin verunglückte am 16. Juni tödlich bei einem Verkehrsunfall. Seine Zeitregelung wurde in Berlin Mitte Juli aufgehoben, zugleich in den von den Amerikanern übernommenen Gebieten verspätet und chaotisch eingeführt, bekundet der Potsdamer Historiker Lutz Prieß: „Der Chef der Sowjetischen Militäradministration der Provinz Sachsen, Generalmajor Kotikov, befahl am 17. Juli die Einführung der Moskauer Zeit; diese Maßnahme hob er am 28. September wieder auf. Ebenso befahl der Chef von Brandenburg am 28. September den Übergang zur Berliner Zeit. Ein vorhergehender Befehl zur Einführung der Moskauer Zeit ist nicht bekannt.“

In Dresden lebte damals Viktor Klemperer, der große Analytiker der NS-„Sprache“, der dieses Chaos mit erlitt und in seinen Tagebüchern beschrieb: „Seit gestern Abend Moskauer Zeit. Die Russenzeit ist allzu sehr gegen die Natur, wir gehen zu spät schlafen und stehen zu spät und unausgeschlafen auf.“

Norbert Podewin glaubt, dass die Moskauer Zeit deshalb eingeführt wurde, weil sich jeder Militär permanent mit Moskau abstimmen musste. Ähnlich meint Peter Jahn, langjähriger Leiter des Deutsch-Russischen Museums in Karlshorst, dass diese Regelung bei allen Truppenteilen, auch den in Polen, der Tschechoslowakei und anderswo stationierten, für ein Minimum an Ordnung sorgen sollte, gerade im Umgang mit den besiegten Deutschen. Aber viel half es nicht: Der Schwarze Markt hatte die Moral der Rotarmisten derart unterhöhlt, dass man sie massenhaft aus Berlin heraus und in abgelegene Gegenden verlegte. Berlin trauerte den „Frau-komm“-Vergewaltigern und „Uri-Uri“-Dieben nicht nach. Nur Bersarin bleibt in vergleichsweise gutem Andenken: Er war zu DDR-Zeiten Ehrenbürger und ist es im vereinten Berlin wieder.Wolf Oschlies


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren