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31.07.10 / Die ostpreußische Familie / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 30-10 vom 31. Juli 2010

Die ostpreußische Familie
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Lewe Landslied,     

liebe Familienfreunde,

sie war Ende Juni in Königsberg gewesen, die kleine Gruppe ehemaliger Königsberger Waisenkinder, die in ihrer Heimatstadt die furchtbaren Nachkriegsjahre verbringen mussten und denen damals das Überleben schwerer erschien als das Sterben. Sie sind noch einmal die alten Wege gegangen, die mit so viel Leid und Elend gepflastert sind, und haben jener Kinder gedacht, die damals nicht mehr weiter konnten, die irgendwo am Straßenrand liegen blieben oder in elenden Löchern starben. Diesen Schicksalsgefährten von einst haben sie einen Stein gesetzt, um zu zeigen, dass sie nicht vergessen sind, auch heute nicht nach so langer Zeit. Er steht nun im Garten der Auferstehungskirche, dem früheren Luisenfriedhof, und so manch ein Besucher, der in diesen Sommertagen in der Pregelstadt weilt, wird hier stehen bleiben und die schlichten Worte lesen: „Zum gedenken der kinder die von 1945–1948 ihr junges leben verloren die überlebenden juni 2010“

Neun von diesen Überlebenden aus dem Kreis der ehemaligen Königsberger Waisenkinder waren es, die an der gemeinsamen Reise in die Stadt ihrer – verlorenen – Kindheit teilnahmen und verwirklichten, was auf ihrem ersten Treffen im vergangenen September im Ostheim in Bad Pyrmont geplant worden war. Damals war der Gedanke an die Aufstellung eines Gedenksteins aufgekommen und hatte schnell konkrete Gestalt angenommen. Die Initiatoren um Helga van de Loo, die mit Hannelore Neumann und Helmut Domasch diesen losen Zusammenschluss von Schicksalsgefährten ins Leben rief – der kein Verein, keine Institution sein will und von keiner Seite finanzielle Unterstützung erhält –, fanden sofort Zustimmung, und gemeinsam verwirklichten sie das Projekt. Wie und was nun auf dieser Reise geschah, hat uns Frau Helga van de Loo in einem ersten Bericht mitgeteilt, aus dem die Freude und eine tiefe Genugtuung über die Verwirklichung dieses nun manifestierten Gedenkens an die sonst Vergessenen spricht. Ich lasse sie berichten:

„Es war eine kleine, ganz individuelle Gedenkreise von neun Teilnehmern, eine überaus harmonische, inhaltlich nachhaltig gelungene Reise von Schicksalsgefährten der Vergangenheit an Schauplätze und Gedenkstätten im jetzigen Königsberg/Ka­liningrad. Ganz bewusst wurden von uns der Fußweg und örtliche Verkehrsmittel gewählt, um den Puls der Heimatstadt möglichst intensiv zu spüren. Es war ein gespürtes, überwältigendes, auch sehr wehmütiges Erleben für einen jeden von uns. Unsere großartige Reiseleiterin, Tamara Michailowa, trug zum Gelingen unserer Wunschvorstellungen durch ihre kompetente liebenswerte Aufgeschlossenheit sehr viel bei. Auch unser erster Besuch der Propstei auf dem Gelände des ehemaligen Luisenfriedhofes zur Vorbesprechung der Gedenkfeier am Sonntag, den 20. Juni war überaus herzlich und gastfreundlich. Auf dieser Feier wollten wir gemeinsam der Tausenden von im Nachkriegs-Königsberg verstorbenen Kinder gedenken, ihnen das noch ausstehende Gebet in Vertretung von Eltern, Großeltern und Geschwistern sprechen und im Garten den errichteten Gedenkstein einweihen.“

Und so vollzog sich diese Gedenkfeier in dem von den Teilnehmern gewünschten, von ihnen mitgestalteten Rahmen. Den Gottesdienst, an dem auch die Gemeinde rege teilnahm, leitete der Kirchenchor mit „Ich bete an die Macht der Liebe“ ein. Hannelore Neumann trug die für diese Feier eigens von ihr ausgearbeitete Gedenkrede vor, die unter dem Wort „damals“ stand – in Deutsch und „tagda“ – in Russisch. Wir wollen diese Rede hier im Wortlaut bringen, denn so können auch wir einen Eindruck von jener Stunde in der Königsberger Auferstehungskirche gewinnen, die für alle, die sie erlebten, unvergessen bleiben wird. Hannelore Neumann sprach:

„Wir, gebürtige Königsberger Kinder, sind gekommen, um nach so unendlich vielen Jahren der Kinder zu gedenken, die das damals nicht überlebt haben. Ihnen das noch auszustehende Gebet in Vertretung von Eltern, Großeltern und Geschwistern nachzuschicken. Wir danken herzlich der Gemeinde mit Herrn Propst Löber für die Erlaubnis und Bereitschaft, hier und heute gemeinsam der verstorbenen Kinder im Nachkriegs-Königsberg zu gedenken und im Garten einen Stein aufzustellen, um die Erinnerung an all jene kleinen, jungen Seelen wach zu halten.

Damals – das waren die Jahre 1945 bis 1948, in denen unsere Mütter durch Seuchen, Hunger, Erschöpfung, von den vielen Vergewaltigungen entkräftet starben, uns nicht mehr ein Zuhause geben und uns nicht liebevoll umsorgen konnten.

Damals – da vegetierten wir bettelnd auf den Straßen, hausten in Häuserruinen und Kellern. Damals – hungerten wir, froren wir, hatten Angst, unsere Geschwister, Mütter und Verwandten zu verlieren.

Damals – waren wir schutzlos der Macht und der Willkür fremder Erwachsener ausgeliefert. Damals – litten wir unter Seuchen und Geschlechtskrankheiten, Hungerödemen, Krätze, TBC und anderen Qualen.

Damals – waren wir apathisch, stumm, verloren unser Lachen, weinen konnten wir auch nicht mehr, wir waren ohne Zuversicht und Hoffnung, die Seelen drohten zu sterben.

Damals – schien das Überleben schwerer als das Sterben, der Tod eine Erlösung.

Damals – lebten wir aber auch oft nur weiter, weil Fremde Mitleid und Güte zeigten und uns schließlich in Kinderlagern auffingen. Unzählige von uns haben das ,Damals‘ nicht überlebt, hatten nicht die Kraft mit all den menschenunwürdigen Lebenswidrigkeiten bis zur Ausweisung im Herbst 1947 bis Sommer 1948 durchzustehen. Die Kinder starben in Massen und wurden dort, wo sich eine Möglichkeit ergab, in die Erde gelegt. Kaum ein Gebet, ein letzter Gruß der Angehörigen konnten sie begleiten.

Wir hoffen, bitten und beten, dass jetzt und in aller Zukunft die Kinder aller Nationen in Frieden leben und aufwachsen können –sich solch ein Kinder-Massenschicksal niemals und nirgendwo wiederholt – alle Religionen ihre Augen auf den Frieden dieser Welt richten, behutsam und verantwortlich damit umgehen.“

Im Anschluss an diese Worte von Hannelore Neumann wurde das Gebet gesprochen, das so lange hat warten müssen: das Vater Unser in ökumenischer Fassung. Dann ging es zur Enthüllung des Gedenksteines auf das ehemalige Friedhofsgelände, an der auch Gemeindemitglieder und Kirchenchor teilnahmen. Pfarrer Löber betete „Gott tröste die Menschen, die gekommen sind zu gedenken ihrer verlorenen Kindheit, ihrer verlorenen Geschwister und Eltern, dass sie weiter Kraft finden in Dir, der Du uns suchst in unseren Nöten“. Bei der Enthüllung des Steines sprach eine weitere Teilnehmerin der Gruppe, Edith Matthes, ihre Gedenkworte, die für die aller Schicksalsgefährten stehen:

„Wir waren Kinder, als die Kriegsereignisse über uns hereinbrachen und uns in äußerste Bedrängnis, in große Not und Lebensgefahr brachten. Wir erlebten Entsetzliches, sahen unsere Mütter und Geschwister sterben, und wir kennen ihre Gräber nicht. Wir waren selber dem Tod so nahe und stehen nun hier als Überlebende. Das Erlebte hat uns geprägt, und die Erinnerung daran hat uns auch in folgenden guten Jahren begleitet. Immer noch schmerzen die Verluste. Wunden brechen auf, und die Verletzungen der Seele heilen nicht. Wir sind dankbar für die Bewährung, die wir erfahren haben, und dennoch ist unser Herz voll Trauer. Nach mehr als 65 Jahren gedenken wir jener Zeit und unserer umgekommenen nächsten Angehörigen. Wir nehmen Abschied von denen, die hier ruhen“. Dann hallte das vom Kirchenchor gesungene Lied „Kein schöner Land“ über den Platz mit dem Stein mit dem eingravierten Blatt, das wohl das einsame Sterben symbolisieren soll: Wie ein welkes Blatt im Wind war auch jedes einzelne Kinderschicksal, verweht, vergessen – damals!

Es sind nur wenige Worte, die auf dem Stein stehen, aber sie sagen mehr als Sprüche oder Zitate, eines der ehemaligen Königsberger Kinder aus der Gruppe, Gerhard Schröder, hat sie geformt. „Die Überlebenden“ steht für die Stifter darunter, die ausnahmslos aus diesem Kreis kommen. Es sollte ursprünglich ein Findling sein, aber einen geeigneten zu finden stieß auf Schwierigkeiten, weil der Stein in einem Steinmetzbetrieb bei Königsberg bearbeitet wurde. Die Propstei half vor Ort mit, das Vorhaben zu realisieren. Zwar war die Zeit knapp bemessen, aber die Arbeit war zum gesetzten Zeitpunkt beendet, der fertige Stein konnte am Sonnabend vor der Gedenkfeier aufgestellt werden. Zwar wirkt er in dem so brach wirkenden Gelände noch ein wenig verloren, aber gerade das verstärkt noch den Eindruck der Einsamkeit, des Vergessenseins, das den Tod der Kinder bestimmt hatte. Der Platz um den Stein wird aber nicht so leer bleiben, ein kleiner Rosenstock ist bereits gesetzt, und weitere Pflanzen sollen den Gedenkstein umrahmen. Der weiße Chrysanthemenstrauß, mit dem die Teilnehmer bei der Einweihung den Stein schmückten, wird ja inzwischen verblüht sein, aber es wird so manch ein Besucher des Gottesdienstes der Auferstehungskirche – und dazu gehören auch ehemalige Königsberger, die in ihre Heimatstadt reisen – ein paar Blumen am Gedenkstein niederlegen. Und wenn es auch nur eine einzige Rose ist.

Nicht alle, die sich diesem Kreis zugehörig fühlen, konnten an der Reise teilnehmen. Alter, Krankheit, aber auch die Strapazen der Anreise wirkten sich auf die über die ganze Bundesrepublik und die USA verstreuten Frauen und Männer hinderlich aus. Aber sie bekundeten ihre Zustimmung in schriftlichen Grußworten wie Frau Gertrud Groß, die ihre an die Propstei gesandt hatte, und von denen wir nur einen Satz weitergeben wollen: „Es ist tröstlich zu wissen, dass auch der Unschuldigen gedacht wird, sind es doch gerade die Kinder, Frauen und Greise, die so ungerecht von der Geschichte behandelt wurden.“

Frau Helga van de Loo spricht allen, die zum Gelingen dieser Gedenkreise beigetragen haben, ihren Dank aus. Er gebührt neben Propst Löber auch seinen Mitarbeitern und den zahlreich erschienenen Gemeindemitgliedern, die sehr aufgeschlossen die Gruppe begleiteten, für die herzliche Gastfreundschaft. Sie schreibt: „Wir haben eine nachhaltig unvergessliche Reise in die dunkle Vergangenheit angetreten, suchten und fanden Orte schmerzlicher Erinnerungen wieder, empfanden in der sensibel geprägten Gemeinschaft von Leidensgefährten untereinander Beistand und Trost. Über allem schien immer die Sonne. Wir nahmen schließlich Abschied leichteren Herzens und dankbar in Gedanken an den kleinen Gedenkstein auf dem alten Luisenfriedhof in unserer Heimatstadt Königsberg.“

(Zu den Initiatoren für die Errichtung des Gedenkstein gehören Gisela Brandstäter, Leichlingen, Helmut Domasch, Erfurt, Gertraud Groß, Chemnitz, Edith Matthes, Glauchau, Hannelore Müller, Löhne, Rosemarie Mueller, Austin/USA, Hannelore Neumann, Karben, Ingrid von der Ohe, Reppenstedt, Irmhild Rieger, Erfurt, Gerhard Schröder, Mühltal, H.-Burkhard Somowski, Berlin, und weitere Förderer sowie federführend Helga van de Loo, Fonckstraße 1 in 53125 Bonn, Telefon 0228/251271, Fax 0228/2436329.)

Eure Ruth Geede


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