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07.08.10 / Türkei-Frage drängt zur Entscheidung / Westerwelle bleibt bei alter Linie, London zeiht Berlin der Doppelmoral, Dobrindt will »Klartext«

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 31-10 vom 07. August 2010

Türkei-Frage drängt zur Entscheidung
Westerwelle bleibt bei alter Linie, London zeiht Berlin der Doppelmoral, Dobrindt will »Klartext«

Bei seinem jüngsten Ankara-Besuch musste Außenminister Westerwelle erleben, dass die Schaukelpolitik gegenüber der Türkei an ihr Ende kommt. Ein klares Ja oder Nein zum EU-Beitritt rückt langsam näher.

Die Frage einer EU-Mitgliedschaft der Türkei drängt mit bislang ungewohnter Dynamik zur Entscheidung. Jahrzehntelang drückten sich europäische Politiker um eine klare Stellungnahme herum. Ihre kritischen Bürger, zumal in Deutschland, beruhigten sie mit dem Hinweis, dass noch lange nichts entschieden sei und alle Aufregung daher gegenstandslos. Die türkische Seite wurde demgegenüber mit dem Versprechen vertröstet, dass sich die Dinge auf einem guten Wege befänden, nur Geduld.

In diesem Tenor versuchte es auch Außenminister Guido Westerwelle wieder bei seinem jüngsten Besuch in Ankara – und scheiterte gleich doppelt. Zwar betonte der Chefdiplomat abermals die „Beitrittsperspektive“ des Landes am Bosporus, was seine türkischen Gastgeber mit höflicher Genugtuung aufnahmen. Gleichzeitig wiederholte Westerwelle jedoch die Diagnose, dass das 75-Millionen-Land derzeit „nicht beitrittsfähig“ sei.

Ein Satz, den die Türken nicht mehr hören können, sie sitzen im Wartezimmer zur EWG/EG/EU seit 1963. Großbritanniens neuer konservativer Premier David Cameron nutzte die Schaukelpolitik Berlins, auf die mittlerweile auch Paris eingeschwenkt ist, zu einer ungewöhnlich deftigen Attacke auf Deutschland und Frankreich.

Bei seinem fast zeitgleich mit der Westerwelle-Visite stattgefundenen Ankara-Besuch zieh der Brite (zur Freude seiner türkischen Gastgeber) Deutsche und Franzosen der „Doppelmoral“. Frankreich betreibe „wirtschaftlichen Protektionismus“ gegen die Türkei, Deutschland sei von „Vorurteilen“ und einer „polarisierenden Denkweise“ blockiert: „Sie (die Deutschen) sehen die Geschichte als Zusammenstoß von Kulturen. Sie denken, die Türkei müsse wählen zwischen Ost und West, beides zu wählen, sei unmöglich. Die Werte des wahren Islam sind (aber) durchaus vereinbar mit den Werten Europas.“

Mit seinen Worten hat Cameron die Haltung eines Großteils der Deutschen tatsächlich recht gut getroffen – nur dass diese Deutschen das Wort „Vorurteil“ vermutlich von sich weisen und auf ihre Erfahrungen vom Zusammenleben mit Millionen Türken hinweisen dürften. In der politischen Klasse der Bundesrepublik gilt es indes weiterhin als unangebracht, solche grundsätzlichen, kulturellen Bedenken offen auszusprechen, oder sie gar zum Ausgangspunkt der eigenen Türkei-EU-Politik zu machen. Lieber verschanzen sich Berliner Politiker hinter einer Kette von Einzel-Einwänden, deren letztes Glied ihrer Hoffnung zufolge nie erreicht werden möge.

Allerdings hält diese Strategie nur solange, wie sie niemand offen beim Namen nennt. Das jedoch hat David Cameron nun getan. Die türkische Regierung nutzte die Gelegenheit und wies die Ersatzlösung zur Vollmitgliedschaft, die von Berlin ersonnene und von Paris später aufgegriffene „privilegierte Partnerschaft“, als „inakzeptabel“ zurück.

Vor diesem Hintergrund geht nun auch den ersten deutschen Politikern die Geduld aus: CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt fordete von Wetserwelle „Klartext“. Von der „Ergebnisoffenheit“ der Beitrittsverhandlungen zu sprechen sei ein „diplomatischer Lufthaken“. Jetzt müsse die „realistische Sichtweise“ formuliert werden, so Dobrindt. Soll heißen: Aus der EU-Mitgliedschaft wird nichts, und das soll man den Türken auch endlich sagen. Was unter der Schwelle einer Vollmitgliedschaft dann noch geht, wird man sehen. Alles weitere Herumgerede bezeichnete der CSU-Politiker als „unfair“ der Türkei gegenüber.

Es ist Dobrindt abzunehmen, dass er hier aus voller Überzeugung spricht. Doch wird der Partei-General auch im Blick haben, dass eine offene Türkeidebatte vor allem SPD, Grünen und Linkspartei schaden dürfte, denn die drei Oppositionsparteien haben sich, im Unterschied zur zurückhaltenderen Union, klar für eine Vollmitgliedschaft der Türkei ausgesprochen. Umfragen belegen, dass die Mehrheit der Deutschen von dieser Idee immer weniger angetan ist.

Beim EU-Beitrittskandidaten Island dagegen soll alles sehr schnell und reibungslos gehen. Nach dem Aufnahmeantrag im Juli 2009 erhielt der Inselstaat vergangenen Juni bereits den Kandidatenstatus, am 27. Juli erfolgte der offizielle Startschuss für Beitrittsverhandlungen. 2012 oder 2013 könne der EU-Beitritt erfolgen, hofft Reykjavik.

Allerdings gibt es noch Knack­punkte: Die Isländer fürchten um ihre Fischbestände, die Bauern der Insel bangen um ihre Existenz, wenn EU-Massenware ihren Markt überschwemmen sollte. Zudem stehen Entschädigungsfragen mit britischen und niederländischen Kunden der isländischen Icesave-Bank im Raum.

Selbst wenn alle Punkte ausgeräumt sein sollten, droht die Aufnahme immer noch an den Isländern zu scheitern, denn am Schluss müssen sie dem Beitritt per Referendum zustimmen. Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise Ende 2008 meinten zwei Drittel der Isländer, dass ihr Land die Probleme nur innerhalb der EU überwinden könne. Doch diesen Sommer, die Wirtschaft hat sich einigermaßen berappelt, sprachen sich 60 Prozent des 320000-Einwohner-Volkes wieder gegen einen EU-Beitritt aus. Hans Heckel


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