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07.08.10 / Neun Minuten, die das Land veränderten / Mit der Fahrt des »Adler« von Nürnberg nach Fürth begann 1835 in Deutschland das Eisenbahnzeitalter

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 31-10 vom 07. August 2010

Neun Minuten, die das Land veränderten
Mit der Fahrt des »Adler« von Nürnberg nach Fürth begann 1835 in Deutschland das Eisenbahnzeitalter

Vor 175 Jahren begann mit der Fahrt des „Adler“ auch in Deutschland das Eisenbahnzeitalter: Neun Minuten Fahrtzeit, welche die Welt veränderten. Aus den sechs Kilometern der ersten Strecke von Nürnberg nach Fürth waren 100 Jahre später stolze 54000 Kilometer geworden; heute sind es 20000 weniger.

Davon hätte nicht einmal Manfred Schnell, beim letzten großen Eisenbahnerstreik 2007 streitbarer Chef der Lokführergewerkschaft GDL, zu träumen gewagt: ein „Dampfwagenführer“, der deutlich mehr verdient als sein oberster Direktor. Es ist allerdings auch schon etwas länger her, seit ein Lokomotivführer die sozialen Verhältnisse dermaßen auf den Kopf zu stellen vermochte. Der Herr hieß William Wilson, war gebürtiger Brite und anno 1835 mitsamt seinem Arbeitsgerät in das Königreich Bayern eingereist – per Schiff und Postkutsche.

Seinen großen – im Rückblick historischen – Auftritt hatte Mister Wilson am 7. Dezember 1835. Standesgemäß im schwarzen Frack mit Zylinder und weißen Handschuhen (!) setzte er an diesem Sonnabend um „Punct 9 Uhr“ eine mobile Dampfmaschine auf sechs Rädern in Bewegung, die neun Wagen mit rund 200 todesmutigen Fahrgästen im atemberaubenden Tempo von 40 Stundenkilometern von dannen zog. Die sechs Kilometer Eisenfahrweg zwischen Nürnberg und Fürth waren in neun Minuten zurückgelegt.

Deutschlands erster Lokomotivführer, Leitbild für die Berufsträume nachfolgender Knabengenerationen, hatte als Ingenieur bei George Stephenson gearbeitet, blieb dann aber, nicht zuletzt wohl auch dank seinem üppigen Jahresgehalt von 1500 Gulden (300 mehr als der Chef), bis zu seinem Tod 1862 in Nürnberg.

Der englische Eisenbahnpionier Stephenson hatte 1825 zwischen Darlington und Stockton die erste öffentliche Bahnlinie eröffnet und 1830 mit der 50 Kilometer langen Strecke von Liverpool nach Manchester den Durchbruch geschafft.

In Deutschland war es der Wirtschaftswissenschaftler Friedrich List (1789–1846), der die Neuerungen aus England aufgriff. Ihn trieben vor allem politische Motive. Ein „deutsches Eisenbahn­system“ sollte entscheidend dazu beitragen, die Zerstückelung in 39 souveräne Staaten des Deutschen Bundes mit den unterschiedlichsten Münz- und Maßsystemen zu überwinden und so beim Einstieg in das Industriezeitalter gegenüber England aufzuholen. Angeregt von seinen Ideen entstand in Nürnberg die „Königl. privilegierte Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft“. Ihre Aktien im Nennwert von 100 Gulden waren am Tag der ersten Fahrt auf 80 Gulden gefallen, zwei Jahre später aber auf ihren fünffachen Wert geklettert. Ein Erfolg, an den Bayernkönig Ludwig I. anfangs gar nicht glauben mochte: Erst am 19. August 1836 wagte Seine Majestät sich auf die Schienen der nach ihm benannten Bahn.

Ähnlich dachten andere gekrönte Häupter. Preußens Friedrich Wilhelm III. spottete: „Kann mir keine große Glückseligkeit vorstellen, ob man einige Stunden früher in Potsdam ankommt oder nicht.“ Und Hannovers König Ernst August brachte die Bedenken gegen die fauchenden Stahl­ungeheuer auf den Punkt: „Ich will nicht, dass jeder Schuster und Schneider so rasch reisen kann wie ich.“ Verhindern konnten die skeptischen Monarchen freilich nicht, dass die Eisenbahn zum „Leichenwagen des Absolutismus und Feudalismus“ wurde, wie der westfälische Unternehmer und „Vater des Ruhrgebiets“ Friedrich Harkort konstatierte.

Denn mit wahrhaft atemberaubendem Tempo eroberte die Eisenbahn die deutschen Lande. Am 7. April 1839 wurde die erste Fernstrecke in Betrieb genommen (115 Kilometer von Dresden nach Leipzig), ein halbes Jahr später die Strecke Berlin–Potsdam. Zugleich begannen die Deutschen, nun auch selber Lokomotiven zu bauen, statt sie aus England („Adler“ war Sephensons Lok Nr. 118) oder Belgien zu importieren. Die Pioniere hießen August Borsig, Carl Anton Henschel und Joseph Anton von Maffei. Letzterer hatte 1841 seinen „Münchner“ der staatlichen bayerischen Süd-Nord-Bahn für 24000 Gulden angedient, was aber am Veto des Königs scheiterte, dem die Lok „selbst geschenkt zu teuer“ schien. Schließlich überzeugte Maffei Seine Majestät mit dem Hinweis, an der Steuer auf das während der Bauzeit von seinen Arbeitern getrunkene Bier habe der Staat mehr verdient, als die Maschine koste.

In den ersten Jahrzehnten wurden die meisten deutschen Eisenbahnen von privaten Aktiengesellschaften betrieben. Erst Otto von Bismarck gelang es, nach der Reichsgründung 1871 eine breite Verstaatlichungswelle zu initiieren. Doch erst nach dem Ersten Weltkrieg kam es zur Gründung der Reichsbahn. Die litt unter schwersten Reparationslasten: 8000 Lokomotiven, 13000 Personen- und 280000 Güterwagen kassierten die Sieger ein. Ferner wurden der Bahn Reparationszahlungen von elf Milliarden Goldmark, zahlbar in Raten à 600 Millionen bis zum Jahr 1964, auferlegt. Dies wurde allerdings 1932 wieder aufgehoben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verblieben von den 54000 Kilometern Streckennetz des Jahres 1937 nur noch 31000 Kilometer in den Westzonen und 13000 Kilometer in der SBZ. Durch die Stilllegung unrentabler Nebenstrecken und die Interessenverlagerung auf den lukrativeren Fernverkehr schrumpfte das Netz der Bahn im vereinigten Deutschland nunmehr unter 34000 Kilometer.

Dennoch bleibt die Bahn eines der wichtigsten Massenverkehrsmittel – sie hat wie kaum eine andere technische Entwicklung das Leben der Menschheit verändert. Hans-Jürgen Mahlitz


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